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zweitausendzwanzig

Diana Hellwig

 

I (groß­müt­ter)

meine erin­ne­run­gen gehen durch
arme­leu­t­e­land, mäg­de­zah­len, gold­an­lei­hen für den kaiser

das feine netz auf groß­mutters kalt geleg­tem haar,
das sich unbe­nutzt in hel­les gespinst verwandelte,

zart und schwe­re­los zusam­men­ge­kehr­ter staub
der am kamm hän­gen­blieb auf der kon­sole über dem becken,

zen­tral­hei­zung kam erst später,
die treppe nach oben, so ein­fach, sämt­li­che räume.

doch groß­mutter badete nicht, blieb in der ecke,
auf ihrer couch, bis sie starb;

das alte ding end­lich weg­kam mit groß­va­ters priem
unterm kis­sen; keine ahnung,

ob er ihn mehr­mals benutzte, wie ich später
west-kau­gummi, das für ein­mal zu schade war

bunte kugeln, bla­sen, die auf dem gesicht klebten
wenn sie zerplatzten.

 

II (große brüder)

neben der räu­cher­kam­mer die wurstkammer
neben der wurst­kam­mer das alte schlafzimmer

in dem ich lag, als du bei der armee warst
nicht der krieg, nur der dienst

als groß­va­ter starb, du mit kin­der­ge­sicht zurück
ein paar sachen, kram, einer clowns­uhr mit ticktack-augen

die viel zu laut sich davonstahlen,
ich hatte kei­nen so festen schlaf.

in der nacht schwitzte die luft zwi­schen den scheiben
wenn drau­ßen die fen­ster tauen, wie­der frieren

für eine ame­ri­ka­ni­sche zukunft, eine russische,
irgend eines her­ren zukunft.

am wochen­ende ver­pfle­gungs­beu­tel, sparkatiaden
bunt­me­tall; zum wer­fen zu leicht, roh­stoffe von morgen

wenn uns die welt gehört, machen wir kohle aus dreck -
und dreck haben wir genug.

 

III (müt­ter, väter)

und mut­ter hatte klei­der aus weststoff,
gefärbte brauen, ein haar­teil für ihren dutt

kein makel blieb unge­scho­ren beim impfsieg
über das alte jahr­hun­dert; zum ersten mai

und blühte der mohn, blühte er der republik
pla­stik­blu­men mit sicherheitsnadeln,

die ich sam­melte, die wun­den, wur­den vereist,
knie­strümpfe wie­der hergestellt,

fah­nen­stan­gen hin­ter judomatten
bis zum näch­sten kampf­tag oder thälmann-geburtstag

oder ehren­be­gräb­nis, fest jun­ger pioniere –
jün­ger ging kaum, noch mehr zu groß als uniform

grö­ßer als träume zu spa­ni­ens himmeln
ging kaum, wenn wir an die ost­see fuhren

die übel­keit anhielt, ver­teilte mut­ter köl­nisch wasser
auf vater, kis­sen und plüschtiere.

 

IV (kin­der)

der schorn­stein der mol­ke­rei steht noch,
abge­half­terte fah­nen­ma­sten, heute verwachsen

fasst nicht mehr sicht­bar, nur als pro­test einer ande­ren zeit
ein­zelne stücke im schre­ber­gar­ten verpflanzt

plus schup­pen mit wel­las­best, das pira­ten­haft überdauert,
über­dacht die häu­ser im spa­ni­schen stil

auf­ge­malte blu­men, bou­gain­villeas, weil jetzt,
wo wir rei­sen dür­fen, jetzt, wo wir gese­hen haben,

jetzt – holen wir die ferne ein, umwickeln das segel,
fällt ein ziel nach dem anderen

die voo­doo-puppe am rück­spie­gel des wartburgs;
war mal ´n gro­ßes ding, diese welt, und heute

so viele joghurts­or­ten, nazi­sym­bole, das jähr­li­che krippenspiel
eines neuen erlö­sers, gehe ich nir­gendwo hin

nachts pfei­fen und sin­gen die masten, wenn der wind
in sie fährt, sich in die leere zurücksehnt


Alle Rechte bei der Autorin.
Der Abdruck erfolgt mit freund­li­cher Geneh­mi­gung der Autorin.

 

 

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