Annette Seemann
Sankt Goar, den 17. August
Sie wissen, ich habe oft gesagt, ich liebe Flüsse. Über Flüsse werden sowohl Ideen als auch Waren befördert. Alle Phänomene der Schöpfung haben ihre großartige Aufgabe. Flüsse, riesigen Trompeten gleich, singen dem Ozean das Lied von der Schönheit der Erde, der Feldbestellung, der Pracht der Städte und der Menschen Ruhm. Ich sagte Ihnen auch das: Vor allen anderen Flüssen liebe ich den Rhein. … Und immer habe ich starke Gefühle, wenn ich in Kommunikation, fast möchte ich sagen: Kommunion trete mit großen Phänomenen der Natur, die ebenfalls große Geschichtsphänomene sind.
Ja, mein Freund, der Rhein ist ein edler Fluß: aristokratisch, republikanisch, kaiserlich, würdig, sowohl Frankreich als auch Deutschland anzugehören. Die gesamte europäische Geschichte, in ihren zwei großen Aspekten betrachtet, liegt in diesem Fluß der Krieger und der Denker, in dieser phantastischen Woge, die Frankreich zur Tat anregt, in diesem tiefgründigen Rauschen, das Deutschland träumen läßt.
Der Rhein vereint alles. Der Rhein ist schnell wie die Rhône, breit wie die Loire, eingedämmt wie die Maas, gewunden wie die Seine, klar und grün wie die Somme, geschichtsträchtig wie der Tiber, königlich wie die Donau, geheimnisvoll wie der Nil, goldbestickt wie ein Fluß in Amerika, von Geschichten und Gespenstern umwoben wie ein Fluß im Innern Asiens. …
Als die Morgenröte der neu erwachenden Zivilisation über den Taunushängen erkennbar war, blühten an den Rheinufern die Legenden und Geschichten auf Damals – für uns in einen Halbschatten getaucht, aus dem hie und da magische Fünkchen aufleuchten – gab es in diesen Wäldern, in diesen Felsen, diesen Tälern nur Erscheinungen, Visionen, wunderbare Begegnungen, Teufelsjagden, Höllenburgen, Harfenklänge im Unterholz, melodische Lieder, von unsichtbaren Frauenstimmen gesungen, und das schreckliche Gelächter mysteriöser Wanderer. Die menschlichen Helden waren fast genauso phantastisch wie die übernatürlichen Wesen: Kuno von Sayn, Sibo von Lorch, Starkenschwert, Griso der Heide, Herzog Attich von Elsaß, Herzog Thassilo von Bayern, Anthys, Herzog von Franken und Samo, der Wendenkönig, irren verstört durch die schwindelerregenden Hochwälder, sie suchen weinend nach ihren schönen, großen und schlanken Prinzessinnen mit der weißen Haut, die so reizende Namen tragen wie Gela, Garlinde, Liba, Williswinde, Schonetta. All diese Abenteurer, die halb im Märchenhaften versunken sind und nur schwach noch mit dem Absatz am wirklichen Leben haften, kommen und gehen in diesen Legenden, verlieren sich am Abend in den undurchdringlichen Wäldern, quälen sich auf ihren schweren Pferden durch Dornen und Stacheln, gefolgt von ihren mageren Windhunden, wie der Ritter Tod von Albrecht Dürer, sie werden aus den Büschen von Gespenstern beobachtet, und gelegentlich sprechen sie irgendeinen rußigen Köhler an, der an einem Feuer sitzt, und das ist dann der Teufel, der in ei-nem Kessel die Seelen der Verstorbenen aufeinandergehäuft hat. … Zwischen diesen mythischen Gestalten tauchen von Zeit zu Zeit solche aus Fleisch und Blut auf: vor allem Karl der Große und Roland. Karl der Große in allen Lebensaltern, als Kind, junger Mann oder als Greis. Karl der Große, den die Legende bei einem Müller im Schwarzwald zur Welt kommen läßt. Roland läßt sie nicht in Roncevalles unter den Schlägen einer ganzen Armee sterben, sondern aus Liebe, im Kloster Nonnenwerth. Später kommen Otto, Friedrich Barbarossa und Adolf von Nassau hinzu. Personen der Geschichte mit Phantasiegestalten zu verbinden gehört zu einer menschlichen Gewohnheit, Fakten gern in einem Wirrwarr von Träumen und Einbildungen festzuhalten. So kämpft sich die Geschichte durch die Märchen erst langsam ans Licht, wie eine Ruine, die hier und da unter den Blumen zum Vorschein kommt.
aus: Victor Hugo, Der Rhein. Herausgegeben und übersetzt von Annette Seemann, Insel Verlag, Frankfurt am Main 2010. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin.