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Schwärmer

Diana Hellwig

 

Sie liegt als Gesicht auf dem Weiß des Kis­sens. Es ist Vor­nehm­heit, nicht auf­zu­fal­len. Am lieb­sten würde sie ver­schwin­den in der gesteif­ten Wäsche des Heims. Geprägte Blü­ten sit­zen dar­auf. Wenn die Decke auf­ge­schüt­telt wird und Licht auf sie fällt, wer­den sie sichtbar.
„Nen­nen Sie mir einen Ort, und ich bringe Sie hin.“
Der Pfle­ger schaut zu dem Bett. „Frau Schmidt?“ Es sieht aus, als hätte sie sich seit gestern nicht bewegt. Bei­nah makel­los wirkt ihre Decke, keine Falte. Auch das Mit­tag­essen von heute steht noch unbe­rührt. ‚Nicht mal zuge­deckt haben sie die Suppe‘, denkt er. Jetzt muss er Frau Schmidt diese kalte Brühe ein­trich­tern, damit sie über­haupt etwas bekommt. Frau Schmidt sieht den Pfle­ger unbe­wegt an, als er sie auf­setzt, ihr den Mund öff­nen will und „Kom­men Sie, wenig­stens ein Löf­fel­chen“ sagt.
Die Suppe riecht nach kal­tem Fett. Frau Schmidt ver­schließt so fest den Mund, dass der Pfle­ger auf­gibt. „Na gut“, sagt er. „Aber nach­her zum Kaf­fee­trin­ken essen Sie ein ordent­li­ches Stück Kuchen.“
„Hach, die und Kuchen“. Frau Schulz im Nach­bar­bett winkt ab. „Das glau­ben Sie doch selbst nicht. Da müs­sen Sie schon kom­men und ihr das rein­pre­di­gen, Krü­mel für Krümel.“
„Und vor­her machen wir eine Aus­fahrt, wir bei­den Hüb­schen, was, Frau Schmidt?!“, fährt der Pfle­ger fort. „Wo wol­len wir denn hin?“
„Nir­gendwo“, sagt Frau Schmidt, aber das lässt der Pfle­ger nicht gel­ten. Und sowieso hat sie auch gar nichts gesagt.
Er beginnt einen Schla­ger zu pfei­fen und dreht Frau Schmidt seit­lich aus dem Bett. Nach­her soll sie sich hin­stel­len, ein paar Schritte lau­fen, bis zum Bad, und dann, noch spä­ter, wenn der weiße Flie­der wie­der blüht, ange­zo­gen wer­den zum Ausfahren.
Frau Schmidt sitzt auf dem Bett­rand. Ihre hel­len, mit bläu­li­chen Adern durch­zo­ge­nen Beine ragen ins Nichts. Sie bewegt sie. Sie bau­meln ein wenig. Sie bewegt sie hef­ti­ger. Es wird kalt an ihren Sohlen.
„So flie­gen Sie mir ja davon.“ Der Pfle­ger ist immer zu etwas auf­ge­legt. „Immer, immer wie­der knie ich vor dir nie­der …“ Er hat die Nagel­zange und fängt einen Fuß. Schlag­ar­tig hört auch der andere mit sei­ner Bewe­gung auf. Frau Schmidt sitzt reg­los. Ihr Rücken ist rund. Ihre Arme lie­gen eng am Ober­kör­per. Eine Hand hält den zur Seite geneig­ten Kopf. Es ist das Geräusch split­tern­den Horns, das sie schon frü­her nicht hören mochte. Nie­mand hält ihr das freie Ohr zu. „… trink mit mir den Duft von wei­ßem Flieder.“
„So, jetzt pas­sen sie wie­der in die Pumps“. Vom Nach­bar­bett kommt ein kur­zes, trocke­nes Lachen. Der Pfle­ger stellt die Haus­schuhe zurecht, doch die Füße von Frau Schmidt sind noch taub. Ihre Zehen sehen aus wie dicke, weiß­li­che Rau­pen. Frau Schmidt spürt, wie sie auf etwas Totem steht, wie sie wegknickt.
Der Pfle­ger hebt Frau Schmidt an, hält sie unter den Ach­seln fest, lässt all­mäh­lich locker. Der Kör­per sackt nach unten, bekommt Stand und – steht. Jetzt legt der Pfle­ger einen Arm um ihre Hüfte, pfeift wie­der den Flie­der, und lang­sam, ganz lang­sam, wie ein Paar, das sich auf dem Heim­weg noch viel zu sagen hat, lau­fen sie Rich­tung Bad. Hal­ten inne. Gehen wei­ter, das Kopf­schüt­teln von Frau Schulz über­se­hend: ‚Wie lange das dau­ert. Die tut doch nur so.‘

Schließ­lich hält es Frau Schulz nicht mehr aus. „… küss ich dir die roten Lip­pen müd.“ Sie wälzt sich aus dem Bett und schlurft näher, stellt sich dem Pfle­ger zur ande­ren Seite, zieht ihn mit ihrem Gewicht zu sich hin. „Frau Schulz, sol­che Avan­cen!“ Da bleibt Frau Schmidt plötz­lich ste­hen, sieht die andere mit aus­drucks­lo­sem Blick an und rollt sich lang­sam zusam­men, geht kei­nen Schritt mehr. Der Pfle­ger sta­chelt den Wett­be­werb an: „Aber Frau Schmidt, sehen Sie nur, Ihre Nach­ba­rin ist noch so flott.“
Die Tür zum Bad steht offen. Frau Schulz sagt: „Die soll sich nicht so haben. Das Stück­chen.“ Der Pfle­ger sagt es auch, mit ande­ren Wor­ten. Doch da ist es Frau Schmidt schon pas­siert. Sie hat gemerkt, wie es kam. Sie konnte nichts dage­gen tun. Es wird warm an ihren Bei­nen. Trotz des plust­ri­gen Dings zwi­schen ihren Schen­keln. Sie spürt die­ses Kin­der­ge­fühl, für das man immer zu alt ist. Steht in einem See und kann es nicht ver­heim­li­chen. Mit hel­len, erschrocke­nen Augen blickt Frau Schmidt auf den Pfle­ger. Der atmet, geht einen hal­ben Schritt zur Seite, schiebt Frau Schulz auf den Rol­la­tor und greift – „Ach, was machen Sie denn?“ – Frau Schmidt bei den Hüf­ten und hebt sie ins Bad.
Dann geht er hin­aus, nicht ohne sich noch ein­mal umzu­dre­hen: „Schön artig sein!“

Frau Schmidt sitzt auf dem Toi­let­ten­deckel und war­tet. Es läuft noch ein wenig ihren rech­ten Fuß hinab. Es ist jetzt nicht mehr warm, son­dern kühl, und kit­zelt an den Zehen. Sie hört Frau Schulz rufen. Sie weiß, wie die in ihrem Streit­wa­gen steht. Frau Schmidt denkt nicht daran zu ant­wor­ten. Sie hat den Kopf auf den Becken­rand gelegt und war­tet. Oder war­tet doch eigent­lich nicht. Wor­auf denn? Den Pfle­ger? Den Flie­der? Dass das Jucken auf­hört und die Feuch­tig­keit an ihr trock­net? Sie hört, wie Frau Schulz sich schwer auf die Griffe des Rol­la­tors stützt. Nur wenn der Pfle­ger da ist, tut sie, als wäre sie ein jun­ges Ding. Gerade ruft sie wie­der nach ihr. „Schmid­ten?“ Das kann sie nicht lei­den. Auch wie die Schwe­stern sie anspre­chen. Die mer­ken sich erst gar nicht ihre Namen, son­dern reden sie mit „Damen“ an. Im Plu­ral. „Meine Damen!“ Nur der Pfle­ger ist anders. Manch­mal sagt er „Püpp­chen“.
Frau Schmidt sitzt auf der Toi­lette und rührt sich nicht. Es kommt ihr vor, als hät­ten sich ihre Glie­der ver­kürzt. Ihre Füße, die frü­her den Boden erreich­ten, hän­gen in der Luft wie ver­trock­nete Füh­ler. Sie schrumpft, denkt sie. Ihr Rücken wird noch run­der. Ihr Leib fal­tet und ver­engt sich, nimmt den Hals in sich hin­ein, auf des­sen obe­ren, gekrümm­ten Ende der Kopf sitzt. Blass, schloh­weiß und hohl­wan­gig. Sehr klein und schein­bar immer noch klei­ner wer­dend, als zöge er sich zusam­men. Und von einem Mund gar nicht mehr zu reden. Ein win­zi­ges Loch ist an seine Stelle getre­ten. Lip­pen­los stülpt sich die Öff­nung immer wei­ter nach innen.

Alles hatte Frau Schulz schon gese­hen. Alles wusste sie. Bis jetzt. Sie wusste, was die Schwe­stern zu tun haben, wann der Pfle­ger kommt, wann die Gym­na­stik dran ist. Ja, ihre Augen waren nicht mehr die besten. Ande­rer­seits war sie nun in einem Alter, in dem man sich nicht so leicht etwas vor­ma­chen lässt.

Sie war zum Bade­zim­mer gerollt, um nach Frau Schmidt zu sehen. Doch Frau Schmidt war nicht mehr dage­we­sen, nicht auf den ersten Blick. Nur etwas, das an sie erin­nerte. Auf dem Toi­let­ten­sitz. Ein blei­ches, klein­ge­wor­de­nes Fleisch mit star­ren Augen. Frau Schulz war näher her­an­ge­tre­ten. Sie ver­stand nicht recht. Sie streckte die Hand aus und wedelte vor dem stump­fen Gesicht­chen herum. Schloh­wei­ßes Haar hatte sich um das, was ein­mal Frau Schmidt war, gelegt, es umspon­nen und wie ein Insekt bei der Ver­pup­pung in sich aufgenommen.
Der Pfle­ger hastet Frau Schulz ent­ge­gen. Sie steht an der Tür und traut sich nicht mehr ins Zim­mer. Der Pfle­ger hat Eimer und Mopp dabei und mur­melt etwas von Zwi­schen­fall. Er ist blass und fah­rig, aber er strafft sich. „Auf in den Kampf!“ Er stößt den Stiel in den Wisch­ei­mer, hält sich an ihm fest und dehnt sich aus sei­ner Achse. „Stolz in der Brust …“ steht er in der Bade­zim­mer­tür. Doch der Reim will nicht aus sei­ner Kehle. „Frau Schmidt? Hallo?“ Er lässt den Stock fal­len und ist mit einem Sprung wie­der auf dem Flur. Läuft zurück ins Zim­mer. Schaut ins Bad. Starrt auf das neben dem rosa­far­be­nen Wasch­becken kau­ernde Etwas. Fährt sich übers Gesicht. Sieht Frau Schulz an, die noch immer in der Tür steht. Ruft: „Frau Schmidt!“ Denkt: „Um Got­tes­wil­len, Püppchen!“
Frau Schulz fängt den Blick des Pfle­gers. Sie umfasst den Rol­la­tor. Ihr Kopf wackelt etwas hin und her, doch ihre Augen hal­ten das Ziel. Die Fal­ten des Gesichts haben diese Augen klein wer­den las­sen und in den Kopf zurück­ge­drängt. Man sieht bei­nah nur noch die Iris, gelb­lich­braun. Keine schöne Farbe. Und mit die­ser schaut Frau Schulz in die jun­gen, unsi­che­ren Augen des Pfle­gers. Mit auf­rech­tem Kopf auf dem buck­li­gen Rücken sieht sie ihn an, durch­boh­rend und er fühlt, wie er unter dem Blick zu nicken beginnt, wie er ‚ja‘ sagt und dann wie­der nickt.


aus: Der lächelnde Hund. Erzäh­lun­gen, Edi­tion Muschel­kalk der Lite­ra­ri­schen Gesell­schaft Thü­rin­gen e. V, Band 48, Wei­mar 2019.
Alle Rechte beim Verlag.
Der Abdruck erfolgt mit freund­li­cher Geneh­mi­gung des Ver­lags und der Autorin.
Das Buch auf der Web­site des Wart­burg Verlags.
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