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Rennsteig-Schwalben

Klaus Jäger

 

Er ver­suchte, ohne den Kopf auch nur einen Mil­li­me­ter zu bewe­gen, aus den Augen­win­keln her­aus die Häu­ser und ihre Fen­ster im Blick zu behal­ten. Da, die Num­mer 10. Der Beob­ach­tungs­po­sten der Alten im Haus gegen­über war ver­waist. Durch die zuge­zo­ge­nen Gar­di­nen sah Hart­mann das unru­hige Flim­mern des Fern­seh­schirms und war sofort beru­higt. Er hockte sich hin, tat so, als ob er sich einen Schuh zubin­den musste, lauschte in die her­ein­bre­chende Nacht und ver­ge­wis­serte sich mit einem Blick in die Runde, dass ihn tat­säch­lich nie­mand sah. Hof­fent­lich, dachte er. Ein Hund schlug irgendwo in der Ferne an, und man hörte den Ver­kehr auf der Haupt­straße wie ein gedämpft auf- und abschwel­len­des Summen.
Er rich­tete sich mit einem Ruck auf, stemmte sich mit bei­den Hän­den auf das schmie­de­ei­serne Git­ter der Gara­gen­ein­fahrt und hob das rechte Bein auf das Tor. Mit einem Satz war er schließ­lich auf der ande­ren Seite. Gott, tat das weh. Das Knacken in sei­nen Kno­chen ließ ihn für einen Moment an seine Frau den­ken, die ihren Rücken gerade bei der Kur behan­deln ließ, und an sein Alter. Vor zehn Jah­ren wäre der Sprung noch ein Leich­tes gewesen.
Wie­der ver­harrte er für einen Augen­blick und horchte. Nichts hatte sich ver­än­dert. In raschen Schrit­ten war er auf dem Weg zum Haus, lief halb geduckt bis zur Ecke und spähte auf den Hof. Eine kleine Ter­rasse hin­ter dem Haus war von einer Buchs­baum­hecke ein­ge­fasst, ordent­lich geschnit­ten. Dahin­ter schloss sich ein weit­läu­fi­ger Gar­ten mit Bäu­men, Büschen und ein paar Gemü­se­bee­ten an. Am Ende des Grund­stücks stand ein gro­ßer Schup­pen. Alles sah ver­las­sen aus, aber nichts ver­nach­läs­sigt. Es war, als wären die Besit­zer mal eben ins Innere gegan­gen, um Abend­brot zu essen.

An den in Rich­tung Gar­ten zei­gen­den Fen­stern waren die Roll­lä­den oben. Kein Licht­schein drang her­aus. Wie Hart­mann schon ver­mu­tete, war das Haus leer. Er ging an ein Fen­ster, legte die Hände schüt­zend wie einen Trich­ter an die Augen und sah hin­ein. Er hoffte, im Däm­mer­licht irgend­et­was erken­nen zu kön­nen, was die Abwe­sen­heit des Haus­be­sit­zers erklärte. Als Erstes sah er in eine Art Küche. Die Uhr ging offen­bar noch, in der Spüle stand ein wenig Geschirr. Dun­kel wie ein Klotz hockte eine Kaf­fee­ma­schine in der Ecke. Hart­mann konnte nicht erken­nen, ob in der Kanne noch Kaf­fee war. Den­noch: Was er sah, sprach für seine Theo­rie – alles machte den Ein­druck, als wäre der Woh­nungs­in­ha­ber kurz zum Nach­barn. Oder zur Nach­ba­rin, dachte Hart­mann mit einer Spur Gehässigkeit.
Das näch­ste Fen­ster war das zum Schlaf­zim­mer. Ein Dop­pel­bett, eine Hälfte benutzt, über die andere Seite lag halb eine Tages­decke gebrei­tet, so als wäre sie nur zur Seite gescho­ben wor­den. Und vor dem Bett, vor dem unge­mach­ten? Ein Hau­fen Kla­mot­ten oder eine mensch­li­che Gestalt? Hart­mann war sich nicht schlüs­sig. Könnte auch ein­fach ein Bade­man­tel sein. Er presste sein Gesicht dich­ter an die Scheibe, schot­tete die Spie­ge­lun­gen des Rest­lich­tes noch fester mit den Hän­den ab. Ver­dammt, was war das? Er hörte ein rhyth­mi­sches Geräusch und brauchte eine ganze Weile, bis er es als sei­nen eige­nen Herz­schlag iden­ti­fi­zie­ren konnte. Er sah sich fast die Augen aus dem Kopf, aber das Bild wurde weder hel­ler noch deut­li­cher. Sein Puls ging in die Höhe. Dafür spürte er sein Gedärm nicht mehr. Wenig­stens etwas, dachte er bei­läu­fig. Und fragte sich, was er jetzt wohl tun sollte.
Was, wenn dort jemand lag, der Hilfe brauchte?
Auf Ver­dacht die Poli­zei oder den Ret­tungs­dienst rufen ging nicht. Wie sollte er denen seine Anwe­sen­heit auf dem Grund­stück erklä­ren? Und mit unter­drück­ter Ruf­num­mer anonym? Ob sie ihn nicht den­noch orten konn­ten? Obwohl, wenn er schnell verschwand …
Er klopfte sacht an die Fensterscheibe.
Er klopfte ein wenig fester.
Er wartete.
Er lauschte.
Er schimpfte sich einen Idio­ten. Wenn sich der Mann seit ein paar Tagen nicht gemel­det hatte, konnte es gut sein, dass er auch seit ein paar Tagen hier lag. Da würde er auf ein biss­chen Klop­fen nicht reagieren.
Hart­mann schlug zwei­mal fest an die Fen­ster­scheibe. Dann horchte er wie­der, aber mehr in die Außen­welt, ob es irgend­wel­che Reak­tio­nen gab, die dar­auf schlie­ßen lie­ßen, dass man von sei­ner Anwe­sen­heit Notiz nahm.
Nichts.
Er ging vor zur Ein­gangs­tür. Das Licht wurde immer schwä­cher, und obwohl er extra seine Taschen­lampe in die Jacke gesteckt hatte, traute er sich nicht, sie hier im Freien zu benut­zen. Die Tür war aus Kunst­stoff, aber ziem­lich mas­siv. Er sah eine große Drück­er­gar­ni­tur aus Mes­sing, deren Blatt alt­mo­disch ver­ziert war. Er fin­gerte am Schloss herum, merkte jedoch schnell, dass es einen sta­bi­len Schließ­zy­lin­der hatte. Die Tür war zu modern, um sich mit einem ein­fa­chen Schlüs­sel, einem Diet­rich oder einer dün­nen Klinge knacken zu las­sen. Viel­leicht funk­tio­nierte ja der Kartentrick.
Hart­mann zog sein Porte­mon­naie aus der Jacken­ta­sche, klappte es auf und hielt es schräg gegen das biss­chen Licht, das noch auf den Hof fiel. Er hatte eine ganze Reihe Pla­ste­kar­ten bei sich und über­legte, wel­che er am ehe­sten ris­kie­ren könnte. Seine Wahl fiel auf die ATU-Card. Die benutzte er ohne­hin höch­stens ein- oder zwei­mal im Jahr. Er fum­melte sie her­aus und ver­suchte, sie auf Höhe des Schnap­pers zwi­schen Tür­blatt und Fül­lung zu schie­ben. Doch die Tür lag sehr straff an der Gum­mi­dich­tung an, sodass er die Karte eher zer­bro­chen hätte, als sie in den Schlitz zu bekom­men. Fru­striert steckte er sie wie­der ein.
Dann dachte er an den Schup­pen. Viel­leicht würde er dort ein Stemm­ei­sen fin­den oder einen Mei­ßel. Auch ein Nagel­ei­sen würde gute Dien­ste lei­sten. Er würde die Haus­tür nur so weit auf­bie­gen, dass er mit der Karte den Schnap­per her­un­ter­drücken konnte. Dann musste er nur noch dar­auf hof­fen, dass die Tür nicht abge­schlos­sen war. Eine kleine Chance, er wusste das, aber bes­ser als gar keine. Falls da drin­nen wirk­lich ein Mensch lag, der Hilfe brauchte, dann wollte er auch helfen.
Er fluchte, als er sich durch den Gar­ten tastete. Gestern war noch so ein hel­ler Mond, als sie vom Ita­lie­ner wie­der zurück in die Kur­kli­nik gegan­gen waren. Aber das war auch schon spä­ter gewe­sen, deut­lich nach zehn. Jetzt konnte er den schma­len Weg aus Rasen­plat­ten gerade mal als hel­len Strei­fen erken­nen. Hart­mann ging vor­sich­tig, er wollte nicht stol­pern. Und hatte er vor­hin nicht noch eine Harke gese­hen, die am Rande eines Bee­tes lag? Bloß das nicht, dachte er.
Der Schup­pen hatte eine ein­fa­che Holz­tür, die nicht abge­schlos­sen war. Glück gehabt. Als er sie öff­nete, schlug ihm ein sehr unan­ge­neh­mer Geruch ent­ge­gen, so ähn­lich wie aus einer lange nicht geleer­ten Müll­tonne im Hoch­som­mer. Doch wer weiß, viel­leicht bewahr­ten die Bewoh­ner ja gerade hier ihren Müll auf.
Er zog die Taschen­lampe her­aus, ein blei­stift­dün­nes Exem­plar mit LED-Tech­nik, schal­tete sie ein und leuch­tete im Halb­kreis den Raum aus. Links vom Ein­gang war ein klei­ner Hügel Dreck und Erde auf­ge­schüt­tet, in dem noch eine Schau­fel steckte. Rechts stand ein altes Küchen­bü­fett, an der Wand dar­über ein Brett mit aller­lei Werk­zeug. Wei­tere Gerät­schaf­ten lagen auf dem Büfett herum. Er müsste nur auf­pas­sen, nicht über die Holme der Schub­karre zu stol­pern, die in der Mitte des Rau­mes auf ein paar Bret­tern parkte. Er ging bis zum Schrank und schal­tete die Lampe wie­der aus, weil er glaubte, drau­ßen ein Geräusch gehört zu haben.
Mucks­mäus­chen­still stand er im dunk­len Schup­pen und lauschte sei­nem laut pochen­den Her­zen. Viel­leicht war es ja nur ein Tier der Nacht, das leise um den Schup­pen strich. Der Gestank wurde inten­si­ver. Hatte er Müll­ton­nen gese­hen? Er wusste es nicht. Es roch sehr unan­ge­nehm, wie ver­dor­be­nes Fleisch. Mög­li­cher­weise ver­we­ste ja auch gerade ein Rat­ten­ka­da­ver in einer Falle, über­legte Hart­mann. Dann zuckte er zusam­men. Hatte er auf den Boden geach­tet, als er von der Tür zur Anrichte gelau­fen war?
Nach­dem er nichts wei­ter gehört hatte, schal­tete er seine Taschen­lampe wie­der ein und leuch­tete den Boden ab.
Der Weg zum Aus­gang war fallenfrei.
Dann blitzte ihn etwas an. Zwi­schen den Bret­tern, wie ein silb­ri­ger Reflex war das. Er ließ den Strahl der Taschen­lampe noch ein­mal über die Plan­ken wan­dern. Da war es wie­der. Gerade so, als ob jemand eine Uhr oder einen Ring ver­lo­ren hätte.
Hart­mann schob die Schub­karre ein Stück bei­seite. Als er mit dem Schuh den Spalt zwi­schen den Bret­tern ver­grö­ßerte, sah er, dass dar­un­ter frisch gear­bei­tet wor­den war. Er leuch­tete wie­der den Hau­fen Dreck und Erde an. Das glei­che Mate­rial. Er bückte sich und hob ein Brett hoch. Das, was so silb­rig geglänzt hatte, erwies sich als ein Stück Folie, das nur unvoll­stän­dig wie­der mit dem Füll­ma­te­rial abge­deckt wor­den war. Er fasste es an der Seite an und zog es hoch. Der Dreck, die Erde und die Stein­chen dar­auf kamen ins Rut­schen. Er sah einen Hemds­är­mel, ein Hemd, einen Bauch … und ließ vor Schreck die Folie wie­der fal­len. Ein infer­na­li­scher Gestank machte sich plötz­lich breit, eine heiße Übel­keit schoss ihm durch den Bauch. Hart­mann ließ die Lampe fal­len und stürzte aus dem Schup­pen. Mehr­fach würgte er, bemühte sich aber, auf gar kei­nen Fall neben die Schup­pen­tür zu kot­zen. Die fri­sche Luft, die er sich hek­tisch in die Lun­gen pumpte, tat gut.
Er musste nicht noch ein­mal in den Schup­pen gehen, um zu wis­sen, was er hier gefun­den hatte. Er über­legte hek­tisch, doch das Handy, das er schon in der Hand hatte, ver­staute er wie­der in der Hemd­ta­sche. Wen sollte er anru­fen? Und was erzäh­len? Dass er nach dem Ein­bruch in einen frem­den Schup­pen beim zufäl­li­gen Bud­deln eine Lei­che gefun­den hatte? Nein, nein, nein.
Das ging ganz und gar nicht.


aus: Renn­steig-Schwal­ben, Emons Ver­lag, Köln 2015.
Alle Rechte beim Autor.
Der Abdruck erfolgt mit freund­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

 

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