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Niemanns Kinder (Auszug)

René Mül­ler-Fer­ch­land

 

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Sie lagen neben­ein­an­der im Bett. Finn drehte sei­nen Kopf nach rechts und sagte: Du bist jetzt sech­zehn. Wie ich. Dann drehte er sei­nen Kopf nach links. Und wie du.

Ja, sagte Mateo, der mit sei­ner Hand in der Luft spielte.

Ich find das abso­lut abge­fah­ren, dass ihr im glei­chen Jahr gebo­ren, aber keine Zwil­linge seid.

Doch, belehrte ihn Mateo, wir sind iri­sche Zwil­linge. Als er sah, dass sein Freund die Augen­brauen kräu­selte, erklärte er ihm, dass die­je­ni­gen Geschwi­ster so bezeich­net wür­den, die inner­halb von zwölf Mona­ten gebo­ren seien. Marta war im Januar sech­zehn gewor­den, Mateo wurde es nun im November.

Marta hatte ihre Arme hin­ter dem Kopf ver­schränkt und spürte Finns Haare am Ell­bo­gen. Sie drehte sich nicht zu ihm, sie ant­wor­tete ihm nichts. Sie bewegte sich nicht, damit sie sein Haar wei­ter spü­ren würde. Sein blon­des, wil­des Haar, das ihm bis unter die Ohren ging. Als es an der Tür klin­gelte, setzte sie sich aber doch wie erleich­tert auf.

Das ist Pap Jakosch! rief Mateo.

Ach ja, euer Opa?

Ja. Marta stieg aus dem Bett.

Im schma­len Flur der Woh­nung, in der alle Wände, Möbel und Böden in gedeck­ten, leb­lo­sen Far­ben gehal­ten waren, stan­den sie plötz­lich zu sechst. Jakosch, ein etwas älte­rer, aber kräf­ti­ger, ele­gant ange­zo­ge­ner Mann mit vie­len Lach­fält­chen um die Augen, ließ sich von Marta umar­men, dann ging er auf Mateo zu, dem das Zusam­men­tref­fen all die­ser Men­schen allein wegen ihm offen­bar unan­ge­nehm war. Mein Klei­ner! Herz­li­chen Glück­wunsch! und umarmte ihn. Es war eine innige Umar­mung, die kurz­zei­tig alle ande­ren Anwe­sen­den aus­schloss. Mateo und Marta stan­den dann neben­ein­an­der und es war nicht zu leug­nen, dass sie alles zu nut­zen schie­nen, um sich von­ein­an­der abzu­gren­zen – wäh­rend er eher unauf­fäl­lig geklei­det war und seine dunk­len Haare ganz kurz rasiert hatte, trug sie ein tief­schwar­zes, kur­zes, wegen sei­nes auf­rei­zen­den Schnitts ins Auge fal­len­des Kleid und eine zer­zau­ste Hoch­steck­fri­sur, mit der sie grö­ßer wirkte, obwohl sie genauso groß war wie ihr Bruder.

Zwei Frauen stan­den dabei, der Genera­tion zwi­schen Jakosch und den Jun­gen ange­hö­rend, dicht neben­ein­an­der, und wirk­ten so, als gelte es, sich eben nicht von­ein­an­der zu unter­schei­den. Er herzte die bei­den, erst Jasenka, die jün­gere, die etwas rot wurde, dann Jas­mina, die ebenso wie ihre Schwe­ster ein Tuch um den Kopf trug.

Hallo, ich bin Finn! Er gab Jakosch die Hand und ver­suchte, seine Auf­re­gung nicht zu zei­gen, dabei glitt sein Blick dann doch schnell zu Boden.

Jakosch lächelte. Finn, aha!

 

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Marta
Marta
M a r t a
Was für ein schö­ner Name.
Marta. Meine Tochter.

Mor­gen
muss ich das Schlaf­zim­mer weiß streichen.

Dann: ab nach B.

Ciao F.

Es ist Nacht.

Zwan­zig Stun­den später.
Nicht in B.
Noch in F.
Warum?

Ich muss das Schlaf­zim­mer streichen!
Das Weiß würde noch reichen.
Ich habe Jas­mina gesagt, dass es nicht reicht.
Dass ich heute, Sonn­tag, keine neue Farbe besor­gen kann.
Warum?

Gestern um diese Zeit habe ich gedacht, ich wäre jetzt bereits weg. In B.
Ich hätte es sein können.
Ich bin in F. Noch immer.
Mor­gen. Mor­gen Mit­tag kann ich fer­tig sein. Dann: nach B.
Zu dir, Marta.

Marta. Ob du schon gewach­sen bist? Ein klei­nes bisschen.
Du schläfst bestimmt gerade.
Marta! Räum dein Zim­mer auf!
Ob ich dich jemals werde schimp­fen können?

Son­nen­un­ter­gang. Der letzte in F.
Mor­gen. Mor­gen: B. Und Marta! Und Jasmina.
Jasenka.

Drau­ßen fährt ein Auto. Und noch eins.
Wo fah­ren sie hin
Eines nach B. Ein ande­res woandershin.
Noch ein ande­res bleibt in F.
Was bleibt in F.
Eine Fla­sche Bier.
Meine liebe Tochter!
Liebe Marta!
Marta. Es ist Nacht. Es ist in F, wo dein Papa noch ist. Mor­gen komme ich zu dir, meine Kleine. Aber jetzt, jetzt bin ich noch hier. Wenn ich erst­mal bei euch bin, werde ich F vergessen.
Dabei wur­dest du hier noch gebo­ren, Marta. Erst ein paar Wochen ist das her. War das eine Auf­re­gung! Alles war so gut vor­be­rei­tet. Aber man kann nicht alles vor­be­rei­ten. Du lagst ganz ungün­stig in Mamas Bauch. Das kann man nicht beein­flus­sen. Kurz bevor

Auch der Papa wurde hier gebo­ren. In F. Fünf­und­zwan­zig Jahre vorher.
Wie meine Geburt war? Das weiß ich nicht. Ich wüsste es gern. Ich weiß, dass ich auch das erste Kind mei­ner Mut­ter war.
Es muss schwer sein, zum ersten Mal ein Kind zu krie­gen. Für deine Mama war es schwer.
Kurz bevor man einen Kai­ser­schnitt hätte machen müs­sen, hast du dich doch noch gedreht. Wir waren so froh. Und dann warst du da. Es war schon ganz spät. So spät wie jetzt, zwei Uhr nachts. Ich habe mich immer gefragt: Was denkt man in dem Augen­blick, da das Kind gebo­ren wird? Ich habe nicht gedacht, ich habe nur gese­hen. Ver­sucht zu ver­ste­hen in dem Augen­blick, da es pas­sierte. Ich glaube, ich habe es nicht ver­stan­den. Drau­ßen war es ganz ruhig. Mama wurde auch wie­der ruhig. Sie und die Tante haben ein schö­nes, lei­ses Gebet gespro­chen. Ich habe es nicht ver­stan­den. Ich habe nicht gefragt, was genau sie gebe­tet haben. Ich habe es gehört und wusste, dass es etwas Gutes bedeu­ten musste.
Mor­gen. Mor­gen strei­che ich die­ses Schlaf­zim­mer noch weiß und dann komme ich zu dir. Ich werd dir von die­ser Stadt, von F, erzählen.


aus: René Mül­ler-Fer­ch­land, Nie­manns Kin­der. Roman, PROOF-Ver­lag, Erfurt 2021.
Alle Rechte beim Autor. Der Abdruck erfolgt mit freund­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

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