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Nachtfahrt

Wulf Kirsten

 

Nach­dem ich mich einige Tage in West­ber­lin her­um­ge­trie­ben hatte, kratzte ich die letz­ten Mün­zen zusam­men, die gerade noch reich­ten, das Fahr­rad aus­zu­lö­sen, das ich bei der Gepäck­auf­be­wah­rung im Bahn­hof Zoo ein­ge­stellt hatte. Auf diese Idee, das Rad dort zu depo­nie­ren, war ich erst gekom­men, nach­dem ich einen Tag lang ziel­los kreuz und quer her­um­ge­kurvt war. Das Quiet­schen etli­cher Auto­brem­sen noch im Ohr. Mein Fahr­rad, das nur an Dorf­stra­ßen und ein­same Chaus­seen gewohnt war, fand sich in dem groß­städ­ti­schen Stra­ßen­ge­triebe, das nur aus Schnell­strecken zu bestehen schien, nicht zurecht. Von Ver­kehrs­re­geln hatte es kei­nen blas­sen Schim­mer. Außer­dem sah ich die Stadt nur im Vor­über­flie­gen. Die exo­ti­schen Geschäfts­aus­la­gen husch­ten sche­men­haft vor­bei. Wohl hatte ich das Rad strecken­weise gescho­ben, um bes­ser beob­ach­ten zu kön­nen. Aber dies erwies sich auf Dauer als lästig. Vor allem wollte ich end­lich in eines der Kinos, die so ver­lockend zum Besuch ein­lu­den. Als ich ver­geb­lich nach einer Rad­ein­stel­lung fahn­dete, wie ich sie aus der mir ver­trau­ten Stadt Mei­ßen kannte, kam der ret­tende Rat­schlag: Bahn­hof Zoo.

Auf­ge­bro­chen war ich mit der Vor­stel­lung, ich müsse sogleich ein Auf­nah­me­la­ger fin­den, in dem man mit offe­nen Armen emp­fan­gen würde. Doch ein Stumm-Poli­zist riet mir, mich von oben bis unten samt Fahr­zeug und Ruck­sack auf dem Gepäck­trä­ger musternd, drin­gend von die­sem Über­sied­lungs­vor­ha­ben ab. „Junge, fahr wie­der nach Hause!“ Ich mußte an den fal­schen gera­ten sein. Den Mut, einen ande­ren zu fra­gen, brachte ich dann nicht mehr auf. Offen­sicht­lich woll­ten sie mich gar nicht auf­neh­men. Eine akti­vi­täts­dämp­fende Ver­un­si­che­rung hatte von mir Besitz ergrif­fen. Alles abge­kar­tet. Tag und Nacht von einem Kino ins näch­ste und die Nächte auf Bahn­hö­fen her­um­drücken, wie bereits andern­orts prak­ti­ziert, konnte nicht so wei­ter­ge­hen. Das gewech­selte Geld zer­floß mir rasch unter den Hän­den. Mich beschli­chen ungute Gefühle. Gefühle der Aus­ge­setzt­heit, der Fremd­heit, fehl am Platze zu sein. Kein Mensch in Sicht, der mir hel­fen konnte. Panik­ar­tig kam der Ent­schluß über mich, das Rad zu holen und so schnell wie mög­lich raus aus der Stadt. Einen Stadt­plan hatte ich mir besorgt, bevor ich von Schmöck­witz aus ohne jede Schwie­rig­keit die Sek­to­ren­grenze wech­selte. Damals im Jahre 1952 war noch das ganze Ber­lin kom­plett auf dem Plan zu besich­ti­gen. Danach ori­en­tierte ich mich. Lei­der war dar­auf ein Auf­nah­me­la­ger nicht ein­ge­zeich­net. Und wen auch hatte ich im Osten danach fra­gen sol­len? Daß nun aber auch aus­ge­rech­net der Poli­zist, den ich gefragt hatte, mich wie­der umkeh­ren hieß, irri­tierte mich über die Maßen. Wür­den denn nicht alle ande­ren, die ich nach dem Weg fra­gen würde, so wie er reagie­ren? Ein Hin­ter­wäld­ler in der Groß­stadt. Heute denke ich eher, ich sei eine von Johann Peter Hebel aus­ge­schickte Gestalt gewe­sen, einer sei­ner Kalen­der­ge­schich­ten ent­sprun­gen. Weiß ich, was mich letzt­lich bestimmte, den Rat des Poli­zi­sten zu befol­gen und Fer­sen­geld zu geben? Mich aus West­ber­lin zu ent­fer­nen, so wie ich gekom­men war? Letzte Rast am Lüt­zow­platz. Von dort dann ziel­stre­big zur Sek­to­ren­grenze und dann quer durch Ost­ber­lin. Immer draufzu gera­delt, stadt­aus, Rich­tung Auto­bahn. Dort­hin mußte ich zurück. Nur hatte ich ver­ges­sen, Brot­kru­men zu streuen. Die Nacht schickte sich an, auf Ber­lin nie­der­zu­fal­len. Ebenso auf mich und das Fahr­rad, das mich trug. Auf dem acht­und­zwan­zi­ger Wan­de­rer-Rad mit unge­wöhn­lich gro­ßer Über­set­zung, für das Flach­land wie geschaf­fen, flog ich regel­recht dahin. Ich trat in die Peda­len, was das Zeug hielt. Bloß raus aus der Stadt. Irgendwo mußte sich doch die Auto­bahn auf­tun, auf der ich die ganze Nacht durch fah­ren zu kön­nen glaubte. Außer einem Kat­zen­auge ver­fügte das flotte Rad über kei­ner­lei Beleuch­tung, was sich als sehr fatal erwei­sen sollte.

In mei­ner reich­lich unvoll­stän­di­gen Vor­stel­lung von der Welt, von Ber­lin und sei­ner ring­för­mi­gen Anbin­dung an die Auto­bahn im beson­de­ren, mußte sie, die eine, die es nur geben konnte, gera­de­wegs nach Dres­den füh­ren. So wie sie mich in drei­zehn­stün­di­ger, nahezu unun­ter­bro­che­ner, sehr ein­sa­mer Fahrt auch nach Ber­lin gelei­tet hatte. Ganz ein­fach. Ein Kin­der­spiel. Man mußte nur uner­müd­lich in die Peda­len tre­ten. Auch die­ses gleich­blei­bend mono­tone und auf die Dauer ermü­dende Tre­ten im Flach­land war eine neue Erfah­rung. Wie abwechs­lungs­reich erwies sich da hin­ge­gen doch das fast stets für aus­glei­chende Gerech­tig­keit sor­gende Hügel­land! Da gab es Erhol­pau­sen wäh­rend der Schuß­fahr­ten zu Tale. Die End­lo­sig­keit des mär­ki­schen Flach­lands hin­ge­gen erfor­derte eine ganz spe­zi­elle Aus­dauer, die durch­ge­hal­ten sein wollte. Dafür war eine andere Ein­stel­lung zum Rad­fah­ren mitzubringen.

Wenn die Auto­bahn nur erst ein­mal gefun­den wäre. Weit drau­ßen vor Ber­lin. Über der Suche nach dem rech­ten Weg an den Stadt­rand war die Nacht her­ein­ge­bro­chen. Ich hätte gut daran getan, mir einen Schlaf­platz zu suchen, abseits der Straße. Aber der Drang und der Wille zur Rück­kehr muß so über­mäch­tig gewe­sen sein, daß ich nicht abließ, aus Lei­bes­kräf­ten in die Peda­len zu tre­ten. Die sich auf das Land, in dem ich mich als regel­rech­ter Irr­läu­fer bewegte, stür­zende Fin­ster­nis gab mir eine unge­wöhn­li­che Schub­kraft. Nichts als voran, um end­lich die Stadt, die sich in den Außen­be­zir­ken wohl lich­tete, zer­fa­serte, aus­fran­ste, aber doch kein Ende nahm, abzu­schüt­teln. Irgendwo in die­ser dünn besie­del­ten Zone, wo die Kie­fern zu domi­nie­ren began­nen, geriet ich unver­se­hens in eine von rus­si­schen Sol­da­ten besetzte Stra­ßen­sperre. Instink­tiv müs­sen da wohl ungute Gefühle in mir hoch­ge­wallt sein. Ich tat jeden­falls so, ohne lange zu über­le­gen, als gelte der Schlag­baum nicht für mich. Mehr instink­tiv als absicht­lich diri­gierte ich das Rad auf einen Tram­pel­pfad hin­über, der durch einen licht gesetz­ten Kie­fern­be­stand hin­durch­führte. Seit­wärts an der Sperre vor­bei und einen Spurt ein­ge­legt. Die große Über­set­zung war dafür wie geschaf­fen. Nur eines im Kopf: Mög­lichst rasch weg von allem, was mich auf- oder zurück­hal­ten konnte. Raus aus der Stadt. Plötz­lich hörte ich hin­ter mir Schreie. Das klang nicht deutsch. Also mel­de­ten sich da wohl die bei­den Wach­po­sten? Sollte ihr „Stoj, stoj!“ mir gegol­ten haben? Ich dachte auch nicht den Bruch­teil einer Sekunde daran, anzu­hal­ten, mich umzu­dre­hen. Jetzt erst recht mir und dem Rad das Äußer­ste abver­langt. Es wurde geschos­sen. Die in die Kie­fern­wal­dung pfat­schen­den Geschosse könn­ten durch­aus mir gegol­ten haben. Ich kann mich nicht dafür ver­bür­gen, noch will ich es mir nach­träg­lich wün­schen. All das ver­mochte ich ohne­hin erst zu rekon­stru­ie­ren, als ich wie­der zu Ver­stand gekom­men war. Die Beach­tung, die einem zuteil wurde, der sich benahm, als sei er flüch­tig, stei­gerte das Lei­stungs­ver­mö­gen und damit das Tempo, als hätte es gegol­ten, einen per­sön­li­chen Rekord zu bre­chen. In die Dun­kel­heit eines Nie­mands­lan­des hin­ein. Ohne Ein­halt. Ohne Besin­nung. Haste­was­kann­ste. Griff da etwas an die Kehle?

End­lich, end­lich sah ich vor mir einen ziem­lich steil gebösch­ten Damm auf­ra­gen, der sich in der schwin­den­den, immer schwär­zer wer­den­den Däm­me­rung gerade noch, wenn auch schon recht ver­schwom­men, abzeich­nete. Den galt es zu erklim­men, mit letz­ter Kraft­an­stren­gung. Tat­säch­lich hatte ich die so lang gesuchte Auto­bahn erreicht. Es konnte nur die eine sein, die auf mein Ziel zuhielt. Da war ich in mei­ner hei­li­gen Dörf­ler­ein­falt über jeden Zwei­fel erha­ben. Kein Weg­zei­chen. Nir­gendwo ein Hin­weis. Die Auto­bahn selbst schien mir Rich­tungs­wei­ser. Das mußte genü­gen. Ich konnte in die Spur gehen. Ange­kom­men, ange­nom­men. Gedacht, getan. Ich nahm die Straße, auf der sich so bequem rad­fah­ren ließ, dank­bar und erleich­tert an. Noch dazu mit solch einem furio­sen Flach­land­ren­ner. Ich flog förm­lich in die Nacht hin­ein, die von kei­ner Rad­lampe erhellt wurde. Mög­li­cher­weise war das schöne Wan­de­rer-Rad, Bau­jahr 1928, jeden­falls was die ursprüng­li­chen Bestand­teile anbe­langte, mit einer Kar­bidlampe aus­ge­stat­tet gewe­sen. Hin und wie­der hatte ich in den Nach­kriegs­jah­ren noch der­art vorst­int­flut­li­che Vehi­kel an alten Fahr­rä­dern erblickt. Nacht­stille um mich her. Kein Auto weit und breit. Kein Mensch zu sehen noch zu hören. Ich hatte die Auto­bahn ganz für mich allein. Fahr zu! Fahr nur zu! Parole: Heim­wärts! Rich­tung Dres­den. Schwer oder gar nicht mehr vor­stell­bar heute, daß es auf der Auto­bahn, nahe Ber­lin, sie­ben Jahre nach Kriegs­ende ein­mal so still gewe­sen sein sollte, wie ich es tat­säch­lich erlebt habe. So still, daß ich es mir kaum zu sagen und zu schrei­ben getraue. Ich kostete das Ver­gnü­gen, die Auto­bahn als Rad­weg zu benut­zen, auch noch spä­ter­hin bis zur Neige aus, bis es strikt ver­bo­ten war und man sich nicht erwi­schen las­sen durfte bei sol­chem Fre­vel. Wie oft bin ich dann aber doch noch quer über die Auto­bahn gelau­fen, um mir län­gere Umwege zu ersparen.

Der totale Zusam­men­bruch des „Tau­send­jäh­ri­gen Rei­ches“ hatte die Kraft­fahr­zeuge bis auf schä­bige Rest­be­stände dezi­miert, von der Bild­flä­che ver­schwin­den las­sen. Neue Fabri­kate lie­ßen noch eine gute Weile auf sich war­ten. Mein Weg durch die Nacht war nicht zu ver­feh­len. Von der grauen Beton­pi­ste strahlte eine gewisse Hel­lig­keit zurück, die mir das Geleit gab. Dar­über­hin brau­ste das Rad mit schät­zungs­weise drei­ßig Stun­den­ki­lo­me­tern Geschwin­dig­keit. Als ob es bei die­ser Blind­fahrt um eine sport­li­che Dis­zi­plin gegan­gen wäre. Ein­mal stürzte ich. Mit­ten auf der Fahr­bahn ein Hin­der­nis, das sich als schof­ler Dreck­hau­fen zu erken­nen gab, als ich mich dar­auf wie­der­fand und mit Hän­den danach grei­fen konnte. Ich hatte ihn viel zu spät bemerkt und nicht mehr Rück­tritt hal­ten kön­nen. Das Rad hatte mich abge­wor­fen. Aber weder mein Gefährt noch ich hat­ten nen­nens­wer­ten Scha­den genom­men. Zumin­dest an die­sem Punkt hät­ten mir Beden­ken kom­men müs­sen. Offen­sicht­lich muß jed­wede Ein­sicht aus­ge­setzt haben. Natür­lich hätte ich spä­te­stens an dem Dreck­hau­fen mit­ten auf der Piste abbre­chen sol­len und die Nacht irgendwo am Rande abwar­ten müs­sen. Aber der­lei Erkennt­nisse, daß es mit­un­ter nicht scha­den kann, Vor­sicht wal­ten zu las­sen, sind Zuga­ben spä­te­rer Zei­ten, in denen eben aus den irr­wit­zig­sten Leicht­fer­tig­kei­ten Kon­se­quen­zen gezo­gen wur­den. Damals – ich will mich an die beschä­mende, nichts beschö­ni­gende Wahr­heit hal­ten – kamen Regun­gen wie Vor­sicht, Ein­sicht, Bedacht, Gedan­ken an Sicher­heit und sonst irgend­wel­che exi­stenz­er­hal­tende Gei­stes­blitze nicht im ent­fern­te­sten auf. Dies weiß ich zu genau. Wie sonst hätte ich mich wie­der aufs Rad geschwun­gen und die Wett­fahrt mit Phan­to­men und gegen das schwarze Nichts um mich her unbe­irrt fort­ge­setzt? Unver­min­dert getram­pelt. Festen Glau­bens, mich bei Son­nen­auf­gang säch­si­schen Gefil­den zu nähern.

Doch plötz­lich, allzu jäh­lings, wie es bei solch einem Rad­tempo unver­meid­lich ist, stellte sich mir und dem Rad ein neues Hin­der­nis in den Weg. Ich raste in vol­ler Fahrt draufzu. Die Dun­kel­heit gab das, was sich gegen mich stellte, nicht zu erken­nen. Um so emp­find­li­cher war es hin­ge­gen zu spü­ren. Um so hef­ti­ger der Stoß, der die Fahrt been­dete. Das vor­erst unbe­kannte, inde­fi­nite Hin­der­nis hatte eines mit dem Fahr­rad gemein: Beide waren unbe­leuch­tet. Ein eiser­nes Gelän­der, sehr sta­bil, hatte sich auf­ge­tan. Quer über die gesamte Auto­bahn­breite hin­weg. Wie nun das wie­der? Wie nur das? Aber für Fra­gen die­ser Art war nicht der rechte Zeit­punkt gesetzt. Zumal ich gar nicht in der Lage war, auch nur noch eine Frage zu stel­len. Ich war weg­ge­tre­ten. Ein unfrei­wil­li­ger Sta­bi­li­täts­test hatte mich als den Unter­le­ge­nen zurück­ge­las­sen. Buch­stäb­lich lie­gen gelas­sen nach dem veri­ta­blen Hecht, den ich über das Gelän­der geschos­sen hatte. Eine bei Rad­fah­rern satt­sam bekannte Dis­zi­plin, die dem Flie­gen nahe­kommt. Doch der pro­to­kol­la­ri­sche Befund hat es zu eilig. Er greift vor. Ich lag auf dem Rücken. Der Länge lang aus­ge­streckt. Dies spürte ich, als ich wie­der zu mir kam, ohne zu ahnen, ohne zu wis­sen, wie lange ich ohne Besin­nung so gele­gen hatte. Viel­leicht nur einen Moment? Aber ein Moment kann mit­un­ter auch die Aus­deh­nung einer klei­nen Ewig­keit haben. Es war jeden­falls ein und diesselbe Nacht, in der es geschah, daß ich stürzte oder viel­mehr flog über ein sehr mas­si­ves Gelän­der, das das Ende der Auto­bahn mar­kierte. Für mich ohne Vor­war­nung. Wo bloß war ich gelan­det? Der Arm, auf den ich mich zu stüt­zen suchte, in der Absicht, mich auf­zu­rap­peln und mich aller mei­ner Extre­mi­tä­ten und mei­nes Kör­pers zu ver­si­chern, griff ins Leere. Dicht neben mir schim­merte ein Fluß­lauf im schön­sten Sil­ber­schein wohl zur hal­ben Nacht hin­auf. Die­ser roman­ti­sche Anblick in nicht ganz glück­li­cher Lebens­lage, eine Welt tief unter mir zu erblicken, bewirkte blitz­schnell einen so unge­wöhn­li­chen und dra­sti­schen Ver­frem­dungs­ef­fekt, daß ich erschrak. So erschrak, daß ein pani­scher Schrecken in mich ein­schoß, der gleich einem Blitz durch den Kör­per zuckte, daß ich wie betäubt und gelähmt lag, mich nicht von der Stelle zu rüh­ren wagte. Ich weiß nicht, wie viele Sekun­den oder gar Minu­ten diese außer­ge­wöhn­li­che Land­schafts­be­trach­tung währte. Mir däm­merte wohl etwas von einer Karam­bo­lage, von einem regel­rech­ten Unfall. Nachts auf der Auto­bahn Wer­weißwo. Gerade noch auf ihr befind­lich. Und dies wirk­lich nur ganz knapp. Knapp am Unten, am Dar­un­ter vor­bei. Ich lag auf einem har­ten Brocken. Auf einem Rest­stück der durch Spren­gung bei Kriegs­ende weg­ge­fetz­ten Brücke, die vor­zei­ten über den Fluß in der Tiefe geführt hatte. Ich lag auf einer vor­kra­gen­den Zacke. Die Dank­bar­keit für jenes Rest­stück Welt, das gerade so viel Platz bot, daß ich dar­auf aus­ge­streckt lie­gen konnte, begann erst zu wach­sen, als mich die extreme Lage­rung zu neuen Ein­sich­ten gebracht hatte. Welch ein Glück, daß mich der unfrei­wil­lige Sprung auf festem Boden hatte lan­den las­sen und nicht zwi­schen zwei scharf­kan­ti­gen Beton­zacken. Die­sen schö­nen Fluß­lauf hatte ich doch auf der Hin­fahrt gar nicht bemerkt. Wie auch? Wo doch ein Drü­ber­weg­fah­ren seit Jahr und Tag gar nicht mehr mög­lich war. Nach und nach lie­ßen die ein­drucks­vol­len Nacht­auf­nahme-bil­der und mein unge­müt­li­cher Stand- bezie­hungs­weise Liege-Ort mich reka­pi­tu­lie­rend erken­nen, was mir wider­fah­ren war. Was mir meine Lei­den­schaft für nächt­li­che Rad­tou­ren ohne Beleuch­tung ein­ge­brockt hatte.

In vol­ler Fahrt hatte das Rad das Sperr­ge­län­der gerammt. Das, wie ich mir spä­ter­hin ein­ge­ste­hen mußte, glück­li­cher­weise vor­han­den war und mich, wenn auch nur sehr knapp, vor dem Sturz in die Tiefe bewahrt hatte. Wäh­rend des Auf­pralls, den mein Gedächt­nis aus­ge­spart ließ, trenn­ten sich Rad und Rad­fah­rer urplötz­lich, ein­fa­chen phy­si­ka­li­schen Geset­zen fol­gend. Das Rad war vor dem Gelän­der hän­gen­ge­blie­ben. Wäh­rend ich in die­ser Nacht, an die­ser Stelle einer durch Brücken­spren­gung unter­bro­che­nen, frag­men­ta­ri­schen Auto­bahn­strecke den wag­hal­sig­sten Hecht mei­nes Lebens geschos­sen hatte.

Die Bege­ben­heit setzte sich aus der­art har­ten Knall­ef­fek­ten zusam­men, daß jede noch so auf pro­to­kol­la­ri­sche Strenge des Ablaufs bedachte Schil­de­rung hin­ter der Wirk­lich­keit zurück­blei­ben muß. Glück im Unglück darf man das wohl nen­nen, was mir mein jugend­li­cher Leicht­sinn beschert hatte. Ange­sichts der Abge­wo­gen­heit des Stur­zes, die einer über­ir­di­schen Fügung gleich­kommt, so irdisch auch alles blieb. Damals kamen Über­le­gun­gen, die das Über­le­ben zu deu­ten such­ten, wahr­lich nicht auf. Wie sollte auch einer, der nur dem dank einer Zahn­rad­über­größe zu erzeu­gen­den Geschwin­dig­keits­rausch oblag, etwas von tran­szen­den­ten Fügun­gen gehal­ten haben? Es kann nicht nur der pure Zufall gewe­sen sein, der seine schüt­zende Hand über mich hielt. Hätte mich die Wucht des Auf­pralls auch nur um ein Gerin­ges wei­ter hin­aus beför­dert, wäre keine noch so schmale, abge­zackte Auto­bahn­pi­sten­spitze mehr vor­zu­fin­den gewe­sen, um mich auf­zu­fan­gen und zu bet­ten. Das Hin­über wäre gleich­zei­tig, ohne jedes retar­die­rende Moment, ein Hin­un­ter gewor­den. Ich wäre sehr tief gefal­len. Ob nun in oder neben das Was­ser, das so nacht­ver­wun­schen empor­leuch­tete. Nach einem Unfall­be­richt, der Tiefe in Metern auf­mißt, steht mir, mehr als ein hal­bes Jahr­hun­dert spä­ter, noch immer nicht der Sinn. Den Unglücks­ort habe ich auch spä­ter nie wie­der zu betre­ten noch zu befah­ren gesucht. Auch der Erin­ne­rung, mag ihr schau­dern oder mag sie sich fröh­lich geben, ist nicht nach der klein­sten flun­kern­den Über­trei­bung zumute. Wäh­rend sie es doch sonst so gern tut oder viel­mehr tun muß, um das Wahre noch wahr­schein­li­cher und ein­leuch­ten­der zu machen. Was wollte dies auch alles besa­gen, nach­dem ein Schutz­en­gel es mir ermög­lichte, mich wie­der auf die andere Seite des Gelän­ders zu bege­ben? Wahr­lich nichts.

Ich hatte mich auf dem Weg nach Dres­den gewähnt. Nun aber, das Aben­teuer hin­ter mir, den Schreck dar­über jedoch noch in allen Kno­chen, kam der Ver­dacht auf, ich könnte mich gründ­lich ver­fah­ren haben. Wie her­aus­fin­den, wo ich mich befand? Ich mußte zurück, ein Vor­wärts war unmög­lich. Wäh­rend ich keine ernst­haf­ten Bles­su­ren davon­ge­tra­gen zu haben schien, ließ sich das Rad nicht mehr rich­tig in Bewe­gung set­zen. Irgend etwas mußte sich ver­klemmt oder ver­bo­gen haben. Die Dun­kel­heit ließ den Scha­den nicht erken­nen. Es wollte nicht mehr von der Stelle. Unter einer Brücke, die über die Auto­bahn hin­weg­führte, wollte ich den Rest der Nacht abwar­ten. Wäh­rend ich unter der Brücke hockte, hörte ich Stim­men. Zwei Män­ner spra­chen mit­ein­an­der. In eini­ger Ent­fer­nung sah ich umriß­haft zwei Per­so­nen die Fahr­bahn que­ren. Ich rief sie an, bat um Aus­kunft. Das sich durch die mär­ki­sche Land­schaft schlän­gelnde Fluß­band, das ich unter mir erblickt hatte, war ein Stück Spre­e­lauf. Irgendwo bei Erkner. Sie emp­fah­len mir, die Rück­fahrt anzu­tre­ten. Wenn die Funk­ma­sten von Königs Wuster­hau­sen auf­tauch­ten, solle ich abbie­gen. Auf Wegen, die über etli­che Dör­fer führ­ten, käme ich dann wei­ter drü­ben auf die von mir gesuchte Autobahn.

Aus dem Rad war kein Tempo mehr her­aus­zu­ho­len. Wie sollte ich damit je nach Dres­den gelan­gen? Im ersten Mor­gen­däm­mer sah ich die Besche­rung. Mir grau­ste ange­sichts die­ser Ent­deckung. Das kost­bare Wan­de­rer-Rad hatte eine abscheu­li­che Rah­men­ver­stau­chung erlit­ten. Das Gestänge geknickt, wobei das Vor­der­rad nach innen gezo­gen wor­den war. Ich konnte tre­ten und zie­hen wie ich wollte, da war nichts mehr gera­de­zu­bie­gen. Selbst der Fahr­rad­me­cha­ni­ker, dem ich spä­ter das lädierte Vehi­kel vor­führte, ver­mochte nicht zu hel­fen. Bei der nächt­li­chen Karam­bo­lage hatte ich das schöne Rad, auf das ich so stolz war und mit dem ich mich iden­ti­fi­zierte, zu Schrott gefahren.

Ich weiß nicht mehr, wie viele Stun­den ich brauchte, um end­lich, mit mehr als einer Nacht Ver­spä­tung, den gesuch­ten Anschluß, die ein­zig rich­tige Auto­bahn zu gewin­nen, jene, die wirk­lich und wahr­haf­tig nach Dres­den führte. Ohne Unter­bre­chung. Ohne eine gesprengte Brücke. Aber ich konnte mich abstram­peln wie ich wollte, das Fah­ren fleckte nicht. Und bis Dres­den auf der Auto­bahn lau­fen? Undenk­bar! Unmög­lich! Da hätte ich meh­rere Tages­mär­sche hin­ter mich brin­gen müs­sen. Das Vor­der­rad bockte. Es schleifte so stark, daß sich in mir ein Gemisch aus Jam­mer, Ver­zweif­lung und Trauer braute. Wie sollte man auch einem sol­chen Fahr­rad, das sich aus der Masse der Räder als ech­ter Soli­tär her­aus­hob, nicht nach­trau­ern? Teils schie­bend, teils not­dürf­tig fah­rend, hatte ich auf den beschrie­be­nen Sei­ten­stra­ßen tat­säch­lich die gesuchte Auto­bahn erreicht. Ich sah mich gezwun­gen auf­zu­stecken. Nur konnte ich das lädierte Fahr­rad nicht im Stich las­sen. Und wie sollte ich von die­ser men­schen- wie fahr­zeu­gent­blöß­ten Auto­bahn weg­kom­men? Ich stand am Rande und wußte nicht weiter.

Plötz­lich, wie­der ein­mal plötz­lich, kam zu dem Wun­der, das mich am Leben gelas­sen hatte, ein zwei­tes, das in die­sem Moment schie­rer Hilf­lo­sig­keit kaum gerin­ger zu schät­zen war. Auf der gespen­stisch lee­ren Auto­bahn näherte sich dres­den­wärts ein Fahr­zeug. Hilf­ehei­schend gab ich Wink­zei­chen. Rand­läu­fer nebst Strand­gut am Fahr­bahn­rand. Das Fahr­zeug hielt. Kaum zu glau­ben, es ent­puppte sich als Abschlepp­auto, das eine der gro­ßen Nach­kriegs­ra­ri­tä­ten mit sich führte, auf­ge­bockt ein Kran­ken­auto, unbe­setzt. Ich schil­derte dem Fah­rer mein Mal­heur, ohne in die Details zu gehen und dabei Gefahr zu lau­fen, unglaub­wür­dig zu erschei­nen. Der Bei­fah­rer nahm das Rad und ver­staute es auf dem Maschi­nen­wa­gen hin­ter dem Fah­rer­haus, wäh­rend ich im Kran­ken­wa­gen Platz neh­men durfte. Sitz­ge­le­gen­heit war vor­han­den. Ich der ein­zige Insasse.

Wohl habe ich noch so man­ches Mal einen Hecht im freien Flug über die Lenk­stange aus­ko­sten dür­fen, jedoch nie wie­der einen, der mich der Spree so nahe gebracht hat.


Abdruck mit freund­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.
Die Rechte lie­gen beim Autor.

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