Wulf Kirsten
Nachdem ich mich einige Tage in Westberlin herumgetrieben hatte, kratzte ich die letzten Münzen zusammen, die gerade noch reichten, das Fahrrad auszulösen, das ich bei der Gepäckaufbewahrung im Bahnhof Zoo eingestellt hatte. Auf diese Idee, das Rad dort zu deponieren, war ich erst gekommen, nachdem ich einen Tag lang ziellos kreuz und quer herumgekurvt war. Das Quietschen etlicher Autobremsen noch im Ohr. Mein Fahrrad, das nur an Dorfstraßen und einsame Chausseen gewohnt war, fand sich in dem großstädtischen Straßengetriebe, das nur aus Schnellstrecken zu bestehen schien, nicht zurecht. Von Verkehrsregeln hatte es keinen blassen Schimmer. Außerdem sah ich die Stadt nur im Vorüberfliegen. Die exotischen Geschäftsauslagen huschten schemenhaft vorbei. Wohl hatte ich das Rad streckenweise geschoben, um besser beobachten zu können. Aber dies erwies sich auf Dauer als lästig. Vor allem wollte ich endlich in eines der Kinos, die so verlockend zum Besuch einluden. Als ich vergeblich nach einer Radeinstellung fahndete, wie ich sie aus der mir vertrauten Stadt Meißen kannte, kam der rettende Ratschlag: Bahnhof Zoo.
Aufgebrochen war ich mit der Vorstellung, ich müsse sogleich ein Aufnahmelager finden, in dem man mit offenen Armen empfangen würde. Doch ein Stumm-Polizist riet mir, mich von oben bis unten samt Fahrzeug und Rucksack auf dem Gepäckträger musternd, dringend von diesem Übersiedlungsvorhaben ab. „Junge, fahr wieder nach Hause!“ Ich mußte an den falschen geraten sein. Den Mut, einen anderen zu fragen, brachte ich dann nicht mehr auf. Offensichtlich wollten sie mich gar nicht aufnehmen. Eine aktivitätsdämpfende Verunsicherung hatte von mir Besitz ergriffen. Alles abgekartet. Tag und Nacht von einem Kino ins nächste und die Nächte auf Bahnhöfen herumdrücken, wie bereits andernorts praktiziert, konnte nicht so weitergehen. Das gewechselte Geld zerfloß mir rasch unter den Händen. Mich beschlichen ungute Gefühle. Gefühle der Ausgesetztheit, der Fremdheit, fehl am Platze zu sein. Kein Mensch in Sicht, der mir helfen konnte. Panikartig kam der Entschluß über mich, das Rad zu holen und so schnell wie möglich raus aus der Stadt. Einen Stadtplan hatte ich mir besorgt, bevor ich von Schmöckwitz aus ohne jede Schwierigkeit die Sektorengrenze wechselte. Damals im Jahre 1952 war noch das ganze Berlin komplett auf dem Plan zu besichtigen. Danach orientierte ich mich. Leider war darauf ein Aufnahmelager nicht eingezeichnet. Und wen auch hatte ich im Osten danach fragen sollen? Daß nun aber auch ausgerechnet der Polizist, den ich gefragt hatte, mich wieder umkehren hieß, irritierte mich über die Maßen. Würden denn nicht alle anderen, die ich nach dem Weg fragen würde, so wie er reagieren? Ein Hinterwäldler in der Großstadt. Heute denke ich eher, ich sei eine von Johann Peter Hebel ausgeschickte Gestalt gewesen, einer seiner Kalendergeschichten entsprungen. Weiß ich, was mich letztlich bestimmte, den Rat des Polizisten zu befolgen und Fersengeld zu geben? Mich aus Westberlin zu entfernen, so wie ich gekommen war? Letzte Rast am Lützowplatz. Von dort dann zielstrebig zur Sektorengrenze und dann quer durch Ostberlin. Immer draufzu geradelt, stadtaus, Richtung Autobahn. Dorthin mußte ich zurück. Nur hatte ich vergessen, Brotkrumen zu streuen. Die Nacht schickte sich an, auf Berlin niederzufallen. Ebenso auf mich und das Fahrrad, das mich trug. Auf dem achtundzwanziger Wanderer-Rad mit ungewöhnlich großer Übersetzung, für das Flachland wie geschaffen, flog ich regelrecht dahin. Ich trat in die Pedalen, was das Zeug hielt. Bloß raus aus der Stadt. Irgendwo mußte sich doch die Autobahn auftun, auf der ich die ganze Nacht durch fahren zu können glaubte. Außer einem Katzenauge verfügte das flotte Rad über keinerlei Beleuchtung, was sich als sehr fatal erweisen sollte.
In meiner reichlich unvollständigen Vorstellung von der Welt, von Berlin und seiner ringförmigen Anbindung an die Autobahn im besonderen, mußte sie, die eine, die es nur geben konnte, geradewegs nach Dresden führen. So wie sie mich in dreizehnstündiger, nahezu ununterbrochener, sehr einsamer Fahrt auch nach Berlin geleitet hatte. Ganz einfach. Ein Kinderspiel. Man mußte nur unermüdlich in die Pedalen treten. Auch dieses gleichbleibend monotone und auf die Dauer ermüdende Treten im Flachland war eine neue Erfahrung. Wie abwechslungsreich erwies sich da hingegen doch das fast stets für ausgleichende Gerechtigkeit sorgende Hügelland! Da gab es Erholpausen während der Schußfahrten zu Tale. Die Endlosigkeit des märkischen Flachlands hingegen erforderte eine ganz spezielle Ausdauer, die durchgehalten sein wollte. Dafür war eine andere Einstellung zum Radfahren mitzubringen.
Wenn die Autobahn nur erst einmal gefunden wäre. Weit draußen vor Berlin. Über der Suche nach dem rechten Weg an den Stadtrand war die Nacht hereingebrochen. Ich hätte gut daran getan, mir einen Schlafplatz zu suchen, abseits der Straße. Aber der Drang und der Wille zur Rückkehr muß so übermächtig gewesen sein, daß ich nicht abließ, aus Leibeskräften in die Pedalen zu treten. Die sich auf das Land, in dem ich mich als regelrechter Irrläufer bewegte, stürzende Finsternis gab mir eine ungewöhnliche Schubkraft. Nichts als voran, um endlich die Stadt, die sich in den Außenbezirken wohl lichtete, zerfaserte, ausfranste, aber doch kein Ende nahm, abzuschütteln. Irgendwo in dieser dünn besiedelten Zone, wo die Kiefern zu dominieren begannen, geriet ich unversehens in eine von russischen Soldaten besetzte Straßensperre. Instinktiv müssen da wohl ungute Gefühle in mir hochgewallt sein. Ich tat jedenfalls so, ohne lange zu überlegen, als gelte der Schlagbaum nicht für mich. Mehr instinktiv als absichtlich dirigierte ich das Rad auf einen Trampelpfad hinüber, der durch einen licht gesetzten Kiefernbestand hindurchführte. Seitwärts an der Sperre vorbei und einen Spurt eingelegt. Die große Übersetzung war dafür wie geschaffen. Nur eines im Kopf: Möglichst rasch weg von allem, was mich auf- oder zurückhalten konnte. Raus aus der Stadt. Plötzlich hörte ich hinter mir Schreie. Das klang nicht deutsch. Also meldeten sich da wohl die beiden Wachposten? Sollte ihr „Stoj, stoj!“ mir gegolten haben? Ich dachte auch nicht den Bruchteil einer Sekunde daran, anzuhalten, mich umzudrehen. Jetzt erst recht mir und dem Rad das Äußerste abverlangt. Es wurde geschossen. Die in die Kiefernwaldung pfatschenden Geschosse könnten durchaus mir gegolten haben. Ich kann mich nicht dafür verbürgen, noch will ich es mir nachträglich wünschen. All das vermochte ich ohnehin erst zu rekonstruieren, als ich wieder zu Verstand gekommen war. Die Beachtung, die einem zuteil wurde, der sich benahm, als sei er flüchtig, steigerte das Leistungsvermögen und damit das Tempo, als hätte es gegolten, einen persönlichen Rekord zu brechen. In die Dunkelheit eines Niemandslandes hinein. Ohne Einhalt. Ohne Besinnung. Hastewaskannste. Griff da etwas an die Kehle?
Endlich, endlich sah ich vor mir einen ziemlich steil geböschten Damm aufragen, der sich in der schwindenden, immer schwärzer werdenden Dämmerung gerade noch, wenn auch schon recht verschwommen, abzeichnete. Den galt es zu erklimmen, mit letzter Kraftanstrengung. Tatsächlich hatte ich die so lang gesuchte Autobahn erreicht. Es konnte nur die eine sein, die auf mein Ziel zuhielt. Da war ich in meiner heiligen Dörflereinfalt über jeden Zweifel erhaben. Kein Wegzeichen. Nirgendwo ein Hinweis. Die Autobahn selbst schien mir Richtungsweiser. Das mußte genügen. Ich konnte in die Spur gehen. Angekommen, angenommen. Gedacht, getan. Ich nahm die Straße, auf der sich so bequem radfahren ließ, dankbar und erleichtert an. Noch dazu mit solch einem furiosen Flachlandrenner. Ich flog förmlich in die Nacht hinein, die von keiner Radlampe erhellt wurde. Möglicherweise war das schöne Wanderer-Rad, Baujahr 1928, jedenfalls was die ursprünglichen Bestandteile anbelangte, mit einer Karbidlampe ausgestattet gewesen. Hin und wieder hatte ich in den Nachkriegsjahren noch derart vorstintflutliche Vehikel an alten Fahrrädern erblickt. Nachtstille um mich her. Kein Auto weit und breit. Kein Mensch zu sehen noch zu hören. Ich hatte die Autobahn ganz für mich allein. Fahr zu! Fahr nur zu! Parole: Heimwärts! Richtung Dresden. Schwer oder gar nicht mehr vorstellbar heute, daß es auf der Autobahn, nahe Berlin, sieben Jahre nach Kriegsende einmal so still gewesen sein sollte, wie ich es tatsächlich erlebt habe. So still, daß ich es mir kaum zu sagen und zu schreiben getraue. Ich kostete das Vergnügen, die Autobahn als Radweg zu benutzen, auch noch späterhin bis zur Neige aus, bis es strikt verboten war und man sich nicht erwischen lassen durfte bei solchem Frevel. Wie oft bin ich dann aber doch noch quer über die Autobahn gelaufen, um mir längere Umwege zu ersparen.
Der totale Zusammenbruch des „Tausendjährigen Reiches“ hatte die Kraftfahrzeuge bis auf schäbige Restbestände dezimiert, von der Bildfläche verschwinden lassen. Neue Fabrikate ließen noch eine gute Weile auf sich warten. Mein Weg durch die Nacht war nicht zu verfehlen. Von der grauen Betonpiste strahlte eine gewisse Helligkeit zurück, die mir das Geleit gab. Darüberhin brauste das Rad mit schätzungsweise dreißig Stundenkilometern Geschwindigkeit. Als ob es bei dieser Blindfahrt um eine sportliche Disziplin gegangen wäre. Einmal stürzte ich. Mitten auf der Fahrbahn ein Hindernis, das sich als schofler Dreckhaufen zu erkennen gab, als ich mich darauf wiederfand und mit Händen danach greifen konnte. Ich hatte ihn viel zu spät bemerkt und nicht mehr Rücktritt halten können. Das Rad hatte mich abgeworfen. Aber weder mein Gefährt noch ich hatten nennenswerten Schaden genommen. Zumindest an diesem Punkt hätten mir Bedenken kommen müssen. Offensichtlich muß jedwede Einsicht ausgesetzt haben. Natürlich hätte ich spätestens an dem Dreckhaufen mitten auf der Piste abbrechen sollen und die Nacht irgendwo am Rande abwarten müssen. Aber derlei Erkenntnisse, daß es mitunter nicht schaden kann, Vorsicht walten zu lassen, sind Zugaben späterer Zeiten, in denen eben aus den irrwitzigsten Leichtfertigkeiten Konsequenzen gezogen wurden. Damals – ich will mich an die beschämende, nichts beschönigende Wahrheit halten – kamen Regungen wie Vorsicht, Einsicht, Bedacht, Gedanken an Sicherheit und sonst irgendwelche existenzerhaltende Geistesblitze nicht im entferntesten auf. Dies weiß ich zu genau. Wie sonst hätte ich mich wieder aufs Rad geschwungen und die Wettfahrt mit Phantomen und gegen das schwarze Nichts um mich her unbeirrt fortgesetzt? Unvermindert getrampelt. Festen Glaubens, mich bei Sonnenaufgang sächsischen Gefilden zu nähern.
Doch plötzlich, allzu jählings, wie es bei solch einem Radtempo unvermeidlich ist, stellte sich mir und dem Rad ein neues Hindernis in den Weg. Ich raste in voller Fahrt draufzu. Die Dunkelheit gab das, was sich gegen mich stellte, nicht zu erkennen. Um so empfindlicher war es hingegen zu spüren. Um so heftiger der Stoß, der die Fahrt beendete. Das vorerst unbekannte, indefinite Hindernis hatte eines mit dem Fahrrad gemein: Beide waren unbeleuchtet. Ein eisernes Geländer, sehr stabil, hatte sich aufgetan. Quer über die gesamte Autobahnbreite hinweg. Wie nun das wieder? Wie nur das? Aber für Fragen dieser Art war nicht der rechte Zeitpunkt gesetzt. Zumal ich gar nicht in der Lage war, auch nur noch eine Frage zu stellen. Ich war weggetreten. Ein unfreiwilliger Stabilitätstest hatte mich als den Unterlegenen zurückgelassen. Buchstäblich liegen gelassen nach dem veritablen Hecht, den ich über das Geländer geschossen hatte. Eine bei Radfahrern sattsam bekannte Disziplin, die dem Fliegen nahekommt. Doch der protokollarische Befund hat es zu eilig. Er greift vor. Ich lag auf dem Rücken. Der Länge lang ausgestreckt. Dies spürte ich, als ich wieder zu mir kam, ohne zu ahnen, ohne zu wissen, wie lange ich ohne Besinnung so gelegen hatte. Vielleicht nur einen Moment? Aber ein Moment kann mitunter auch die Ausdehnung einer kleinen Ewigkeit haben. Es war jedenfalls ein und diesselbe Nacht, in der es geschah, daß ich stürzte oder vielmehr flog über ein sehr massives Geländer, das das Ende der Autobahn markierte. Für mich ohne Vorwarnung. Wo bloß war ich gelandet? Der Arm, auf den ich mich zu stützen suchte, in der Absicht, mich aufzurappeln und mich aller meiner Extremitäten und meines Körpers zu versichern, griff ins Leere. Dicht neben mir schimmerte ein Flußlauf im schönsten Silberschein wohl zur halben Nacht hinauf. Dieser romantische Anblick in nicht ganz glücklicher Lebenslage, eine Welt tief unter mir zu erblicken, bewirkte blitzschnell einen so ungewöhnlichen und drastischen Verfremdungseffekt, daß ich erschrak. So erschrak, daß ein panischer Schrecken in mich einschoß, der gleich einem Blitz durch den Körper zuckte, daß ich wie betäubt und gelähmt lag, mich nicht von der Stelle zu rühren wagte. Ich weiß nicht, wie viele Sekunden oder gar Minuten diese außergewöhnliche Landschaftsbetrachtung währte. Mir dämmerte wohl etwas von einer Karambolage, von einem regelrechten Unfall. Nachts auf der Autobahn Werweißwo. Gerade noch auf ihr befindlich. Und dies wirklich nur ganz knapp. Knapp am Unten, am Darunter vorbei. Ich lag auf einem harten Brocken. Auf einem Reststück der durch Sprengung bei Kriegsende weggefetzten Brücke, die vorzeiten über den Fluß in der Tiefe geführt hatte. Ich lag auf einer vorkragenden Zacke. Die Dankbarkeit für jenes Reststück Welt, das gerade so viel Platz bot, daß ich darauf ausgestreckt liegen konnte, begann erst zu wachsen, als mich die extreme Lagerung zu neuen Einsichten gebracht hatte. Welch ein Glück, daß mich der unfreiwillige Sprung auf festem Boden hatte landen lassen und nicht zwischen zwei scharfkantigen Betonzacken. Diesen schönen Flußlauf hatte ich doch auf der Hinfahrt gar nicht bemerkt. Wie auch? Wo doch ein Drüberwegfahren seit Jahr und Tag gar nicht mehr möglich war. Nach und nach ließen die eindrucksvollen Nachtaufnahme-bilder und mein ungemütlicher Stand- beziehungsweise Liege-Ort mich rekapitulierend erkennen, was mir widerfahren war. Was mir meine Leidenschaft für nächtliche Radtouren ohne Beleuchtung eingebrockt hatte.
In voller Fahrt hatte das Rad das Sperrgeländer gerammt. Das, wie ich mir späterhin eingestehen mußte, glücklicherweise vorhanden war und mich, wenn auch nur sehr knapp, vor dem Sturz in die Tiefe bewahrt hatte. Während des Aufpralls, den mein Gedächtnis ausgespart ließ, trennten sich Rad und Radfahrer urplötzlich, einfachen physikalischen Gesetzen folgend. Das Rad war vor dem Geländer hängengeblieben. Während ich in dieser Nacht, an dieser Stelle einer durch Brückensprengung unterbrochenen, fragmentarischen Autobahnstrecke den waghalsigsten Hecht meines Lebens geschossen hatte.
Die Begebenheit setzte sich aus derart harten Knalleffekten zusammen, daß jede noch so auf protokollarische Strenge des Ablaufs bedachte Schilderung hinter der Wirklichkeit zurückbleiben muß. Glück im Unglück darf man das wohl nennen, was mir mein jugendlicher Leichtsinn beschert hatte. Angesichts der Abgewogenheit des Sturzes, die einer überirdischen Fügung gleichkommt, so irdisch auch alles blieb. Damals kamen Überlegungen, die das Überleben zu deuten suchten, wahrlich nicht auf. Wie sollte auch einer, der nur dem dank einer Zahnradübergröße zu erzeugenden Geschwindigkeitsrausch oblag, etwas von transzendenten Fügungen gehalten haben? Es kann nicht nur der pure Zufall gewesen sein, der seine schützende Hand über mich hielt. Hätte mich die Wucht des Aufpralls auch nur um ein Geringes weiter hinaus befördert, wäre keine noch so schmale, abgezackte Autobahnpistenspitze mehr vorzufinden gewesen, um mich aufzufangen und zu betten. Das Hinüber wäre gleichzeitig, ohne jedes retardierende Moment, ein Hinunter geworden. Ich wäre sehr tief gefallen. Ob nun in oder neben das Wasser, das so nachtverwunschen emporleuchtete. Nach einem Unfallbericht, der Tiefe in Metern aufmißt, steht mir, mehr als ein halbes Jahrhundert später, noch immer nicht der Sinn. Den Unglücksort habe ich auch später nie wieder zu betreten noch zu befahren gesucht. Auch der Erinnerung, mag ihr schaudern oder mag sie sich fröhlich geben, ist nicht nach der kleinsten flunkernden Übertreibung zumute. Während sie es doch sonst so gern tut oder vielmehr tun muß, um das Wahre noch wahrscheinlicher und einleuchtender zu machen. Was wollte dies auch alles besagen, nachdem ein Schutzengel es mir ermöglichte, mich wieder auf die andere Seite des Geländers zu begeben? Wahrlich nichts.
Ich hatte mich auf dem Weg nach Dresden gewähnt. Nun aber, das Abenteuer hinter mir, den Schreck darüber jedoch noch in allen Knochen, kam der Verdacht auf, ich könnte mich gründlich verfahren haben. Wie herausfinden, wo ich mich befand? Ich mußte zurück, ein Vorwärts war unmöglich. Während ich keine ernsthaften Blessuren davongetragen zu haben schien, ließ sich das Rad nicht mehr richtig in Bewegung setzen. Irgend etwas mußte sich verklemmt oder verbogen haben. Die Dunkelheit ließ den Schaden nicht erkennen. Es wollte nicht mehr von der Stelle. Unter einer Brücke, die über die Autobahn hinwegführte, wollte ich den Rest der Nacht abwarten. Während ich unter der Brücke hockte, hörte ich Stimmen. Zwei Männer sprachen miteinander. In einiger Entfernung sah ich umrißhaft zwei Personen die Fahrbahn queren. Ich rief sie an, bat um Auskunft. Das sich durch die märkische Landschaft schlängelnde Flußband, das ich unter mir erblickt hatte, war ein Stück Spreelauf. Irgendwo bei Erkner. Sie empfahlen mir, die Rückfahrt anzutreten. Wenn die Funkmasten von Königs Wusterhausen auftauchten, solle ich abbiegen. Auf Wegen, die über etliche Dörfer führten, käme ich dann weiter drüben auf die von mir gesuchte Autobahn.
Aus dem Rad war kein Tempo mehr herauszuholen. Wie sollte ich damit je nach Dresden gelangen? Im ersten Morgendämmer sah ich die Bescherung. Mir grauste angesichts dieser Entdeckung. Das kostbare Wanderer-Rad hatte eine abscheuliche Rahmenverstauchung erlitten. Das Gestänge geknickt, wobei das Vorderrad nach innen gezogen worden war. Ich konnte treten und ziehen wie ich wollte, da war nichts mehr geradezubiegen. Selbst der Fahrradmechaniker, dem ich später das lädierte Vehikel vorführte, vermochte nicht zu helfen. Bei der nächtlichen Karambolage hatte ich das schöne Rad, auf das ich so stolz war und mit dem ich mich identifizierte, zu Schrott gefahren.
Ich weiß nicht mehr, wie viele Stunden ich brauchte, um endlich, mit mehr als einer Nacht Verspätung, den gesuchten Anschluß, die einzig richtige Autobahn zu gewinnen, jene, die wirklich und wahrhaftig nach Dresden führte. Ohne Unterbrechung. Ohne eine gesprengte Brücke. Aber ich konnte mich abstrampeln wie ich wollte, das Fahren fleckte nicht. Und bis Dresden auf der Autobahn laufen? Undenkbar! Unmöglich! Da hätte ich mehrere Tagesmärsche hinter mich bringen müssen. Das Vorderrad bockte. Es schleifte so stark, daß sich in mir ein Gemisch aus Jammer, Verzweiflung und Trauer braute. Wie sollte man auch einem solchen Fahrrad, das sich aus der Masse der Räder als echter Solitär heraushob, nicht nachtrauern? Teils schiebend, teils notdürftig fahrend, hatte ich auf den beschriebenen Seitenstraßen tatsächlich die gesuchte Autobahn erreicht. Ich sah mich gezwungen aufzustecken. Nur konnte ich das lädierte Fahrrad nicht im Stich lassen. Und wie sollte ich von dieser menschen- wie fahrzeugentblößten Autobahn wegkommen? Ich stand am Rande und wußte nicht weiter.
Plötzlich, wieder einmal plötzlich, kam zu dem Wunder, das mich am Leben gelassen hatte, ein zweites, das in diesem Moment schierer Hilflosigkeit kaum geringer zu schätzen war. Auf der gespenstisch leeren Autobahn näherte sich dresdenwärts ein Fahrzeug. Hilfeheischend gab ich Winkzeichen. Randläufer nebst Strandgut am Fahrbahnrand. Das Fahrzeug hielt. Kaum zu glauben, es entpuppte sich als Abschleppauto, das eine der großen Nachkriegsraritäten mit sich führte, aufgebockt ein Krankenauto, unbesetzt. Ich schilderte dem Fahrer mein Malheur, ohne in die Details zu gehen und dabei Gefahr zu laufen, unglaubwürdig zu erscheinen. Der Beifahrer nahm das Rad und verstaute es auf dem Maschinenwagen hinter dem Fahrerhaus, während ich im Krankenwagen Platz nehmen durfte. Sitzgelegenheit war vorhanden. Ich der einzige Insasse.
Wohl habe ich noch so manches Mal einen Hecht im freien Flug über die Lenkstange auskosten dürfen, jedoch nie wieder einen, der mich der Spree so nahe gebracht hat.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Die Rechte liegen beim Autor.