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Mein Haus

Kathrin Groß-Striffler

 

Seit gestern steht mein Haus nicht mehr da, wo seit Jah­ren sein Platz gewe­sen ist. Das mag merk­wür­dig klin­gen, ent­spricht aber der Wahr­heit. Als ich am Spät­nach­mit­tag von der Arbeit heim­kam, war es nicht mehr da, und an sei­ner Stelle zog sich ein mit gelb­li­chen Grä­sern bewach­se­nes Grund­stück den Hang hin­auf. Ich über­legte mir, was zu tun sei. Sicher war ich in die fal­sche Straße ein­ge­bo­gen. Ich ging des­halb den Weg noch ein­mal ein Stück zurück. Hier war der kleine Laden an der Ecke, dort stand die Ampel, die den Ver­kehr regelte, und gegen­über war die Hal­te­stelle der Stra­ßen­bahn. Es war alles wie immer. Ich ging in den Laden hin­ein, weil ich kur­zei­tig erwog, die Ver­käu­fe­rin zu fra­gen, doch was hätte ich sie fra­gen sol­len? Ent­schul­di­gung, aber mein Haus steht nicht mehr da, wo es gestern noch gestan­den hat? Ich nahm statt des­sen eine Packung Eier und ein klei­nes Brot, und als ich an der Kasse bezahlte, sagte ich nichts. Die Ver­käu­fe­rin war dick, ihre Arme quol­len unter ihrer kurz­är­me­li­gen Bluse her­vor, und sie bedankte sich, als ich ihr das Geld hin­reichte. Sie wünschte mir einen schö­nen Tag. Hätte ich sie fra­gen kön­nen: und bitte schön, wo soll ich das Brot und die Eier essen? Nein, das wäre auf kei­nen Fall gegan­gen. Es ist nicht gut, Men­schen etwas zu fra­gen, auf das sie in jedem Fall keine Anto­wrt geben kön­nen; es macht sie ner­vös. Da reichte es schon, dass i c h nicht wusste, wo ich das Brot und die Eier essen sollte. Doch nein, sagte ich mir, du gehst jetzt zu dem Ort zurück, wo gestern noch dein Haus gestan­den hat, und dann wirst du sehen, dass alles in bester Ord­nung ist. Häu­ser ver­schwin­den nicht ein­fach so – wie Hunde oder Kat­zen oder Men­schen. Ich würde nach­hause gehen. Nach­hause. Ich war­tete, dass die Fuß­gän­ger­am­pel auf Grün schal­tete, und über­querte die Straße. Vom Fluss her wehte eine Brise, man hörte Kin­der lachen und rufen. Die Sonne schien. Ich legte den Kopf kurz in den Nacken. Weiße Schlei­er­wölk­chen trie­ben über den Him­mel. Ich bog in die Straße ein, die zu mei­nem Haus führte. Ich zwang mich dazu, vor mir auf den Boden zu schauen, damit die Freude dann, wenn ich vor dem Haus stünde und hoch­schaute, noch grö­ßer wäre, und ich war bald beim Nach­bar­haus ange­kom­men. Ich besah mir das Namens­schild. Es war tat­säch­lich der Name mei­ner Nach­barn, der dar­auf stand. Ich wen­dete den Kopf. Der Wind strich über die gelb­li­chen Grä­ser. Der Hang, auf dem sie wuch­sen, war leer. Da war kein Haus. Wahr­haf­tig nicht. Ich machte ein paar Schritte auf das Grund­stück zu. Es war von einem hüft­ho­hen Zaun umge­ben; ein Holz­tor hing schief in den Angeln. Ich öff­nete es und trat ein. Die Grä­ser wur­den vom Wind über den Hang hin gekämmt. Grä­ser wuch­sen in mei­nem Gar­ten nicht – ich hatte eine Sorte schnell­wach­sen­den Efeus gepflanzt, das sich im Lauf der Jahre über den Boden gebrei­tet hatte. Ich lief ein Stück wei­ter. Hier oben hörte man die Kin­der nicht mehr. Das Nach­bar­haus wirkte so, als seien seine Besit­zer weg­ge­fah­ren, für län­ger; die Fen­ster­lä­den waren vor­ge­legt, und man hatte die Stühle auf der Veranda zusam­men­ge­stellt. Einige braune Blät­ter trie­ben über die Stein­plat­ten. Es würde bald Herbst sein, es war kühl, und ich frö­stelte. Der Hen­kel der Tasche mit dem Brot und den Eiern schnitt in meine Hand. Ober­halb des Grund­stücks befand sich ein Gehölz – nied­rig wach­sende knor­rige Kie­fern, strup­pige Hecken, ein paar Bir­ken – das ein wenig Schutz vor der Wit­te­rung bot. Dort­hin­ein zog ich mich zurück, setzte mich auf den Boden. Ich nahm das Brot aus der Tasche und brach ein Stück ab und aß. Hin­ter dem gegen­über­lie­gen­den Hügel ging die Sonne unter. Die gelb­li­chen Grä­ser stan­den jetzt still; der Wind hatte sich gelegt. Der Gar­ten wirkte so, als habe noch nie ein Haus dar­auf gestan­den, gestern nicht und die Tage, Wochen und Monate davor auch nicht; dabei war ich mir sicher, am mich Vor­tag um die­selbe Zeit noch darin auf­ge­hal­ten zu haben, mit der Zube­rei­tung des Abend­essens beschäf­tigt. Des Abend­essens, das ich gewöhn­lich in der Küche ein­nahm, an dem Tisch mit der blauen Wachs­tuch­decke mit den Schiff­chen dar­auf, die ich manch­mal mit dem Fin­ger nach­fuhr, wäh­rend ich dar­auf war­tete, dass das Was­ser für den Tee zu kochen begann. Rechts in der Küche war der Tisch, und links das Buf­fet, der Kühl­schrank und die Spüle. Der Boden war aus Lin­oleum und hatte blaue und braune Karos. Die Lampe über dem Tisch war rund und gefloch­ten. Ich spürte den Stuhl­rand, der sich gegen meine Ober­schen­kel drückte. Ich streckte die Hand aus. Ich berührte ein paar Zweige. Ich sah mich um. Dür­res Gestrüpp, das mich auf vier Sei­ten umgab. Es wurde lang­sam dun­kel. Mit den Hän­den hob ich ein Loch aus,. Die Erde war feucht und kühl. Ich brach Zweige ab und gab sie in die Grube. Über dem Kirch­turm ging der Mond auf, eine fahle Scheibe, an einem Ende etwas ein­ge­drückt; nein, das war sicher­lich eine Wolke, die sich davor gescho­ben hatte, ein dunk­les fase­ri­ges Gebilde, das die Run­dung an einer Stelle bedeckte. Von ferne her kam gedämpf­ter Auto­lärm, hin und wie­der ein Hupen, dort, wo die Stra­ßen­bahn fuhr, leuch­te­ten Blitze auf. Ich legte mich in die Mulde und deckte mich mit mei­ner Jacke zu. Je dunk­ler der Him­mel wurde, desto hel­ler leuch­te­ten die Sterne, in einem kal­ten weiß­li­chen Gelb. Wenn ich mich nicht ver­sah, würde ich in das Dun­kel zwi­schen den Gestir­nen geso­gen … Am näch­sten Tag würde ich die Nach­barn, die jen­seits des Gehöl­zes wohn­ten, um Rat fra­gen, dachte ich. Ich kannte sie nicht, weil in unse­rer Straße jeder für sich blieb, ich wusste nur, dass sie schon älter waren und dass der Mann am Stock ging. Sie müss­ten es wis­sen, was mit mei­nem Haus gesche­hen war. Doch es würde sie erschrecken, wenn ich sie fragte, wer mein Haus in Win­des­eile abge­ris­sen habe, müss­ten sie doch befürch­ten, dass das Glei­che über kurz oder lang mit dem ihren pas­sie­ren würde. Nein, dachte ich, ich kann sie nicht fra­gen. Ein kal­ter Luft­zug wehte vom Hügel her­un­ter, er strich über die Ebene und ver­fing sich in dem Gezweig, das um mich war. Ich weinte. Die Sterne wur­den hel­ler, sie blitz­ten und blink­ten wie Lämp­chen, die man ange­knipst hatte. Die Kirch­turm­uhr schlug. Dun­kel hallte der Klang her­auf, ver­ebbte, sie schlug noch ein­mal und noch ein­mal. Ich zog die Beine an den Bauch und schlang meine Arme darum. Gerippe von Bäu­men schwam­men um mich herum im fah­len Mond­licht. Hin und wie­der knackte es im Gehölz. Was, dachte ich, sollte mor­gen wer­den? Denen bei der Post – ich arbei­tet dort – konnte ich schlecht damit kom­men, dass mein Haus ver­schwun­den war. Gesetzt den Fall, ein paar Zweige steck­ten noch in mei­nem Haar, wenn ich ihnen gegen­über träte, was wür­den sie sagen? Sie wür­den die Zweige nicht sehen, dachte ich. Und wenn ich riefe, mein Haus ist nicht mehr an der Stelle, an der seit Jah­ren sein Platz gewe­sen ist! wür­den sie fein lächeln und mich anhal­ten, meine Arbeit zu machen. er Mond glotzte laut­los her­un­ter. Augen hatte er und ein fel­si­ges Loch da, wo Men­schen eine Nase hat­ten … Die Jacke hielt mich nicht warm. Trotz­dem schlief ich irgend­wann ein. Ich erwachte, als das Dun­kel der Nacht in die tiefe Bläue des Mor­gens über­ging. Die Stra­ßen­bahn rum­pelte Men­schen zur Arbeit. Über der Stadt lag Dunst, hin­ter den sich die Mond­scheibe zurück­zog. Ich erhob mich müh­sam. Ich bog die Zweige zur Seite. Mein Haus war nicht da. Es war, dachte ich, viel­leicht nor­mal, dass die Dinge nicht an ihrem Platz waren. Viel­leicht war es nicht nor­mal, davon aus­zu­ge­hen, dass sich nichts jemals änderte. Auf den Grä­sern lag Tau. Ich kämmte mir mit den Fin­gern die Erde und die Zweige aus den Haa­ren. Ich aß ein Stück Brot und ritzte ein Ei an dem spit­zen Ende mit einem Stöck­chen auf und trank es aus. Tie­fer im Gehölz ver­rih­tete ich meine Not­durft. Die Turm­uhr schlug sechs. Ich trat auf das Grund­stück hin­aus; die Grä­ser fun­kel­ten im Licht. Die Stra­ßen­bahn brachte mich zur Post. Das Gebäude hatte ein gel­bes Post­horn über sei­nem Ein­gang hän­gen. Alles war wie immer: die Schal­ter in der Halle, die Lämp­chen dar­über, halb gelb, halb blau, die Wagen mit den Pake­ten. Es war alles unver­än­dert. Ich nahm Briefe und Pakete ent­ge­gen, die gewo­gen und fran­kiert wer­den muss­ten, ich sah in Gesich­ter und auf Mün­der, die sich beweg­ten, und die Zeit ver­ging. Ein­mal lehnte ich mich auf mei­nem Schal­ter vor, dem Kun­den ent­ge­gen, der eine Aus­kunft über Tele­fon­kar­ten wünschte, und öff­nete den Mund, doch ich schloss ihn gleich wie­der. Sie hören, dass man schreit, aber nicht, was man schreit, und wer in die­ser Menge von Men­schen sah aus, als könne er mir einen Rat geben? Das kalte gelb-blaue Licht über mir leuch­tete ihnen in ihre Gesich­ter, in die Fal­ten rechts und links ihrer Mün­der, in die Fur­chen über ihrer Nasen­wur­zel. Ich riss Brief­mar­ken ab, befeuch­tete sie mit einem Schwämm­chen und klebte sie auf. Am Spät­nach­mit­tag trat ich aus dem Post­ge­bäude her­aus. Es hatte zu reg­nen begon­nen. Ich steig in die Stra­ßen­bahn und holte meine Geld­börse her­aus, um beim Schaff­ner zu bezah­len. Er wollte wis­sen, wohin ich zu fah­ren gedächte … Ich hatte den Namen der Hal­te­stelle ver­ges­sen. End­sta­tion, sagte ich daher, auf gut Glück. Er riss einen Fahr­schein ab. Hohe Miets­häu­ser waren zu bei­den Sei­ten der Straße, dunkle, vom Regen gewa­schene Dächer. Die Wol­ken hin­gen schwer herab; Anten­nen sta­chen hin­ein. Wie in einer Schlucht fuhr die Stra­ßen­bahn dahin. Wei­ter drau­ßen wur­den die Häu­ser klei­ner. Gär­ten waren davor, Zäune darum gezo­gen. Als ich aus­stieg, ging ein Gewitte nie­der, und ich stellte mich im Laden unter. Nach einer Weile hörte es zu reg­nen auf, und ich trat hin­aus. Die Luft roch frisch, über­all glänz­ten Pfüt­zen. Ich wan­derte den Hang hin­auf. Gleich müsste ich rechts abbie­gen. Eine Straße führte nach links. Ver­wirrt blieb ich ste­hen. Ich war mir sicher, dass ich r e c h t s abbi­gen musste … Ich lief ein Stück wei­ter. Noch ein biss­chen wei­ter oben, das sah ich von hier, ver­lor sich die Straße im Feld. Ich hatte mich wohl ver­lau­fen. Ich kehrte um, eilte die Straße hin­un­ter, nahm wie­der den Laden als Aus­gangs­punkt. Kurz­ent­schlos­sen öff­nete ich die Tür – eine andere, dünne, Ver­käu­fe­rin saß strickend an der Kasse. War es gerade eben nicht noch die dicke gewe­sen? Ich warf die Tür zu. Ich über­querte an der Ampel die Straße. Ein Bus stand war­tend an einer Hal­te­stelle. Seit wann fuh­ren hier Busse ab? Ich wählte eine andere Straße. Zwar zog sie sich den Berg hin­auf, doch die Häu­ser, die sie säum­ten, erkannte ich nicht wie­der. Sie hat­ten Dächer aus grauem Schie­fer und Git­ter an den Fen­stern. Ich lief in den Laden zurück. Ich nahm eine Zei­tung von der Ver­kaufs­theke, blät­terte sie durch, mit zit­tern­den Hän­den, legte sie wie­der hin. Mein Haus, sagte ich. Ja? fragte die Ver­käu­fe­rin. Mein Haus ist nicht mehr da, sagte ich. Meine Jacke war feucht, und trotz der Wärme im Laden fror ich leicht. Soso, sagte die Ver­käuf­rin. Sie sah mich selt­sam an. Wo steht – Ent­schul­di­gung – wo stand denn ihr Haus? Ich erin­nerte mich nicht. Ihr Gesicht ver­schwamm in einen run­den fah­len Fleck. Ich trat hin­aus. Drü­ben fuhr der Bus ab, der Motor dröhnte laut, und aus dem Aus­puff kam eine stin­kende schwarze Wolke. Der Fah­rer schal­tete die Schein­wer­fer an, und das Licht huschte vor dem Wagen her. Viel­leicht war ich an der fal­schen Hal­te­stelle aus­ge­stie­gen? Aber der Laden war doch an sei­nem Platz! Sein Dach endete in einem spit­zen Gie­bel, auf dem ein Hahn aus Ton befe­stigt war. Der Hahn hatte den Schna­bel offen. Ein Vogel kam und flog hin­ein. Oder war es eine Fle­der­maus? Bald würde ich nichts mehr erken­nen kön­nen. Ein Mann in einer abge­tra­ge­nen Joppe schlurfte her­bei, stieß die Laden­tür auf und fluchte, als er mit dem Ärmel an der Klinke hän­gen­blieb. Ich trat unter die Stra­ßen­la­terne, die auf dem klei­nen Platz stand. Ich legte meine Hände an den Mast. Meine Fin­ger kro­chen wie Wür­mer über den Stein. Ich schlug den Kopf gegen den Beton. Wo war mein Haus? Wo war mein Haus? Der Mann kam wie­der her­aus, sah zu mir her und machte ein paar Schritte in meine Rich­tung. He, Sie da, rief er. Er hatte einen Bart, der ihm bis auf die Brust reichte. Ich ließ von der Laterne ab. Es reg­nete wie­der hef­ti­ger. Ich lief zu der Bus­hal­te­stelle hin­über. Eine Bank stand da. Ich setzte mich dar­auf, zog die Beine unter den Leib. Regen rann mir in den Nacken. Wenn ich die Augen schloss, war alles schwarz. Die Zeit ver­strich, und kein Bus kam. Die Ver­käu­fe­rin schloss den Laden ab. Sie spannte ihren Regen­schirm auf und über­querte die Straße. Ihr Haus, dachte ich, ob sie es fin­den würde? Lang­sam stand ich auf. Zum Fluss hin­un­ter war es nicht weit, und ich hörte bald, wie das Was­ser gluck­ste. Ein Last­kahn tutete in der Ferne. Das Was­ser schwappte dun­kel an die Ufer­steine heran; ich musste Acht geben, dass ich nicht dar­auf ausglitt.


aus: »Eis­fi­schen«. Das Beste aus dem MDR-Lite­ra­tur­wett­be­werb 2006, hg. Michael Hamet­ner, Mit­tel­deut­scher Ver­lag, Halle, 2007.
Mit freund­li­cher Geneh­mi­gung der Autorin. Alle Rechte bei der Autorin.

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