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Jorge Semprun – Uralter Traum

Annette Seemann

 

Waren es negro­ide Stim­men von Amber, kup­fer­harte Schreie
Oder der Klang dump­fen Regens und Not, die es nicht gab für uns zwei?
Gemein­sam war uns der uralte Traum vom Leben;
Der Herbst: Deine Augen, hohes blaues Zimmer
voll toten Laubs. Welch end­lo­ser, fried­lo­ser Hori­zont, welch
sonn­täg­li­che Mono­to­nie ver­folgte unse­ren Schritt, am Rande der Städte
bei Tages­be­ginn, Trau­mes­be­ginn. Der alte Lebens­ent­wurf, ohne Gleichen,
ohne Hoff­nung, ver­folgte den zar­ten, bar­ba­ri­schen Stoff:
unsere Exi­stenz. Oh, rein waren unsere ern­sten Gesten:
Deine Lip­pen zu kosen oder mein Gesicht oder die schönen,
glat­ten Beine, wo sich die dop­pelte Gier leben­dig verwurzelt,
von den Fes­seln bis zum besieg­ten Nacken, und der Geschmack
rei­fer, fader Aga­ven, so ent­täu­schend für unsere unstill­ba­ren Münder,
diese Blitz­nächte, wüsten­haft, als wir die Spu­ren suchten,
jeder des ande­ren wahrhaftig.
Die Mor­gen­däm­me­rung jedoch ist höl­li­scher Stein

schwan­ger mit Elend, Rei­fung des Lachens, unausdeutbar,
gleich­wohl ver­traut, ist ange­schla­ge­nes Land, glänzt in mineralischem
War­ten. Die Mor­gen­däm­me­rung ist Tiefe hei­se­ren Abschieds.
Wer erin­nert sich dran, jun­ges trocke­nes Mäd­chen bar des Lächelns, oh Einsamkeit,
und deine grauen Augen, an das rei­zende Spiel von einst? Blei­ben die Lumpen,
bunt­be­malt, mit denen wir unsere Maje­stä­ten dra­pier­ten. Und die Sorge.
Blei­ben das Nichts, das Lachen, der uralte Traum,
bleibt jener täg­li­che Ent­wurf: Zu leben trotzdem…

Angst ist ein Ban­ner, zer­zaust von ewi­gem Wind.
17. Februar 1945


Erst­druck in »Akzente«, Heft 6, 2011. Alle Rechte bei der Autorin. Mit freund­li­cher Geneh­mi­gung der Autorin.
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