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Housekeeper

Ralf Eggers

 

Als Otto und Vero­ni­que uns für die Ferien ihr Haus in Frank­reich anbo­ten, waren wir ziem­lich über­rascht; es sollte nicht die letzte Über­ra­schung blei­ben. Sie waren nicht (noch nicht, wie wir damals hoff­ten) unsere besten Freunde; nur Freunde von Freun­den, die wir zwei- oder drei­mal im Jahr auf einer Party tra­fen, wenn sie nach Deutsch­land kamen. Und von denen wir jedes Mal mut­maß­ten, dass es sich loh­nen würde, sie näher zu ken­nen. Unser Inter­esse an den bei­den ent­sprach dem Über­druss an den ande­ren, die mit der­sel­ben Lei­den­schaft, mit der sie frü­her Unsinn über Poli­tik und Liebe gere­det hat­ten, jetzt Urlaubs­fo­tos von Groß­wild­sa­fa­ris zeig­ten und sich die Hel­den­ta­ten unse­rer Jugend in immer neue­ren Aus­schmückun­gen erzähl­ten. (Bes­ser gesagt: ihrer Jugend, denn ich kann mich an eigene Hel­den­ta­ten nicht erin­nern.) Stört das eigent­lich nie­man­den außer uns?, fragte ich The­rese dann auf der Fahrt nach Hause, und wir kamen schnell dar­auf, dass es die bei­den – Otto und Veró – wahr­schein­lich auch störte und sie die inter­es­san­te­ren Freunde sein wür­den. Und nun hat­ten sie uns mit einer groß­zü­gi­gen Geste zu ver­ste­hen gege­ben, dass sie unsere Signale emp­fin­gen und unsere Sym­pa­thie erwi­der­ten. Unsere Reak­tio­nen auf ihr Ange­bot ent­spra­chen der sta­ti­sti­schen Nor­mal­ver­tei­lung unse­rer Marot­ten: Ich wit­terte irgend­ei­nen Ego­is­mus darin, eine kleine mensch­li­che Schwä­che (zum Bei­spiel das Motiv, Kosten für die Bewa­chung des Hau­ses zu spa­ren), wäh­rend Rese wie immer zunächst das Beste annahm, um mir Mis­an­thro­pie vor­zu­wer­fen. (Skep­sis, pflegte ich zu ant­wor­ten, nicht Mis­an­thro­pie. Alles das­selbe, sagte sie.) Aber ich war bereit, mich über­zeu­gen zu las­sen, und schon in den ersten Tagen unse­res Urlaubs tat ich im Stil­len Abbitte, bevor es dann anders wurde. Die bei­den hat­ten, wenn wir sie im Durch­ein­an­der unse­rer Fei­ern und Aus­flüge beob­ach­te­ten, auf schläf­rige Weise zufrie­den mit­ein­an­der gewirkt, und in ihrem Haus färbte diese freund­li­che Müdig­keit sofort auf uns ab. Wahr­schein­lich ver­such­ten wir, wenn wir schon zwi­schen ihren Möbeln und Büchern leb­ten, instink­tiv ihre Bezie­hungs­tricks zu erra­ten und ihre Rituale zu kopie­ren. Wir lasen beim Früh­stück keine Zei­tung und sahen uns beim Reden an. Wir lagen den gan­zen Tag im Gar­ten und mach­ten nach dem Abend­essen, wenn die Hitze nach­ließ, einen Spa­zier­gang, bei dem wir uns an den Hän­den hiel­ten. Wir lie­ßen das Auto ste­hen und dach­ten nicht daran, uns die Gegend anzu­se­hen. Uns fie­len sogar Geschich­ten aus unse­rem jewei­li­gen Vor­le­ben ein, die wir ein­an­der noch nicht erzählt hat­ten (oder die, was in die­sem Zusam­men­hang das­selbe ist, der andere wie­der ver­ges­sen hatte). Wir müs­sen auf Beob­ach­ter einen ver­trau­ten und glück­li­chen Ein­druck gemacht haben, wenn wir zwi­schen den noch jugend­li­chen Allee­bäu­men spa­zier­ten, die von dem abseits der Stadt gele­ge­nen Wohn­ge­biet zur Land­stra­sse führte. (Falls ich damals „Beob­ach­ter“ dachte, meinte ich noch nichts ande­res als neu­gie­rige Nachbarn.)

Die ersten Tage waren reine Har­mo­nie, ein lan­ger, apa­thi­scher Tag­traum. Das kleine (wahr­schein­lich ziem­lich teure) Wohn­ge­biet, in dem das Haus lag, war höch­stens zehn Jahre alt, eine die­ser west­eu­ro­päi­schen Sied­lun­gen vol­ler jun­ger, gut ver­die­nen­der Fami­lien mit einer wach­sen­den Schar zuver­läs­sig mit­ein­an­der befreun­de­ter oder ver­fein­de­ter Kin­der. Ein Ort, der selbst noch den offe­nen Hori­zont der Kind­heit hatte. Die Unauf­fäl­lig­keit und Schmuck­lo­sig­keit des Hau­ses von Otto und Veró ent­puppte sich als Under­state­ment. Es hatte Cha­rak­ter, die­ses Haus: gerade Kan­ten, große Flä­chen, Mut zu unauf­dring­li­chen Asym­me­trien, dezent hoch­wer­tige Mate­ria­lien (mehr als wir uns jemals hät­ten lei­sten kön­nen). Ein sehr dis­kre­ter Anklang an Bau­haus oder eine vom Bau­haus beein­flusste Avant­garde: die Fen­ster zwar recht­eckig, aber sehr lang und schmal, zum Teil auf­recht ste­hend wie schmale Türen (oder wie Spalte, durch die man hin­ein- oder her­aus­schlüp­fen konnte), teils in Kopf­höhe quer lie­gend. Dazu extrem redu­zierte, kom­pakte Details: Tür­klin­ken, Arma­tu­ren, Lam­pen. Und eine Raum­auf­tei­lung, die an einen gut auf­ge­räum­ten Roman erin­nerte. Je län­ger man es bewohnte, desto grö­ßer und durch­dach­ter wirkte es, sorg­fäl­tig, aber nicht auf­dring­lich kom­po­niert; in jedem Zim­mer, im Trep­pen­haus, auf jeder der drei Eta­gen wurde man aufs Neue über­rascht. Aber wie in einem per­fek­ten Roman gab es kein Detail, das, und keine Wen­dung, die grell oder auf­ge­setzt wirkte: keine Ände­rung der Ton­lage, kein Bruch im Duk­tus. Son­dern eins ergab sich wie von selbst aus dem Vor­an­ge­gan­gen und wäre einem unin­spi­rier­ten Geist wie mir trotz­dem im Leben nicht eingefallen.

Otto und Veró hat­ten sich gewei­gert, Geld zu neh­men, was für uns kein unwe­sent­li­cher Aspekt war, uns aber ande­rer­seits ein wenig beun­ru­higte, weil wir nicht wuss­ten, wie wir uns ange­mes­sen revan­chie­ren soll­ten. Sie hat­ten uns den Schlüs­sel mit einem Kurier­dienst geschickt, ein fla­ches Päck­chen mit einer Karte, auf dem die wich­tig­sten Infor­ma­tio­nen stan­den, gestimmt auf die Ton­lage, das Ganze sei nicht der Rede wert. Unsere Gegen­lei­stung bestand (soweit ich ver­stan­den hatte) darin, ihr Haus drei Wochen lang zu hüten (was immer das bedeu­tete), wäh­rend sie in Nord­afrika Urlaub mach­ten: die zwei schma­len Beete im Gar­ten gie­ßen, den Brief­ka­sten lee­ren und die Katze ver­sor­gen. Dass sie das nicht einem Nach­barn anver­trau­ten, hätte uns stut­zig machen kön­nen, aber wir fühl­ten uns geschmei­chelt und freu­ten uns auf drei Wochen prak­tisch kosten­lo­sen Urlaub in Frank­reich. Wir nah­men tat­säch­lich an, ihre Geste, die ja kein gerin­ges Ver­trauen ver­riet, könne der Auf­takt für eine herz­li­che Bezie­hung sein.

Dann, am vier­ten oder fünf­ten Tag, suchte ich im Werk­zeug­kel­ler nach einem Ker­zen­schlüs­sel, weil die Zünd­kerze des Rasen­mä­hers ihren Geist auf­ge­ge­ben hatte und fand die Waf­fen. Wie das so ist: Du suchst etwas, das sich in einem gut auf­ge­räum­ten Haus­halt gewiss fin­den wird, streifst durch die Funk­ti­ons­räume im Kel­ler, bewun­derst die Ord­nung, die sinn­rei­che Auf­tei­lung, fin­dest alles mög­li­che, nur nicht, was Du suchst. Du öff­nest Schub­la­den, kriechst in Ein­bau­schränke, wirst all­mäh­lich unge­dul­dig und bekommst einen Tun­nel­blick, wickelst gegen jede Ver­nunft etwas viel zu Schwe­res aus einem öli­gen Lap­pen aus und hast eine schwarze, schlanke, rela­tiv kleine Maschi­nen­pi­stole in der Hand.
Es war eine Uzi, wie ich sofort erkannte, ohne dass ich sagen könnte, woher ich das wusste. Es wird Sie nicht wun­dern, dass ich sofort ent­schied, Rese nicht davon zu erzäh­len. Wenn ich beim Her­um­stö­bern Por­no­hefte gefun­den hätte (was nicht der Fall war), hätte ich ihr das auch nicht erzählt, obwohl sie nicht prüde ist. (Aus Waf­fen machte sie sich defi­ni­tiv nichts.) Es hätte die zar­ten Keime zer­stört, dass milde Klima und die kind­li­che Ver­sun­ken­heit ins Nichts­tun, in der wir (wie ich hoffte) wie­der zuein­an­der fin­den wür­den. Ich muss auch sagen, dass ich weni­ger erschrak, als man erwar­ten könnte. Ich wun­derte mich nicht ein­mal beson­ders. In jedem Haus­halt fin­det sich, wenn man lange genug sucht, etwas, von dem man lie­ber nichts wis­sen will: Furcht­erre­gen­des Sex­spiel­zeug, ver­schim­mel­tes Kom­pott im Kel­ler oder Medi­ka­mente gegen eine schlimme Krank­heit im Schrank des Bade­zim­mers. Mein Fund wurde nur durch die Katze skan­da­li­siert, die sich sonst nur zum Fres­sen sehen ließ und irgendwo im Gar­ten oder auf dem Flach­dach der Garage so tief schlief, dass sie unsicht­bar wurde. Aber als ich die Waffe aus­ge­wickelt hatte, stand sie plötz­lich hin­ter mir und begann ein Kla­ge­ge­schrei, wie man es sonst nur nachts hört, jenes gespen­sti­sche Geräusch, das an Kin­der­wei­nen erin­nert, als wollte sie mich war­nen. Wenn ich mich rich­tig ent­sinne, war das der Auf­hän­ger – die Katze, die mir schein­bar etwas mit­tei­len wollte – als ich die Sache ein paar Tage spä­ter beim Wein Rese doch noch erzählte. Hätte ich es sofort getan, sie wäre gewiss nicht in Ohn­macht gefal­len. Sie mochte Otto und Veró zu sehr, um ihnen eine Eigen­heit wie den Besitz einer Hand­feu­er­waffe ach­sel­zuckend ver­zei­hen zu kön­nen. Auch wenn wir nicht in Ame­rika waren: Es gibt ver­mut­lich auch in Frank­reich viele Mög­lich­kei­ten, sich eine Waffe zu besor­gen, wenn man das unbe­dingt will. (Und auch, hoffte ich, wenn man es nicht unbe­dingt will.) Wäh­rend ich zurück in den Gar­ten ging, fiel mir die Geschichte von Freun­den in Thü­rin­gen ein, die ein altes Bau­ern­haus gekauft und bei der Sanie­rung unter den Die­len Gewehre gefun­den hat­ten, die die Bau­ern nach dem Krieg aus Angst vor den Rus­sen ver­steckt haben muss­ten. Aber dass ich es Rese nicht sofort erzählte, hing ver­mut­lich auch damit zusam­men, dass eine Uzi nicht aus dem zwei­ten Welt­krieg stam­men kann. Und dass sie beim besten Wil­len keine Sport­waffe ist. Ein wei­te­rer Grund zu schwei­gen (und ins­ge­heim nach einem Vor­wand für unsere Abreise zu suchen) war der, dass ich, wäh­rend sie den Vor­mit­tag auf der Hän­ge­matte zwi­schen den bei­den ein­zi­gen Bäu­men des Gar­ten mit gekrau­ster Stirn ver­schlief, noch ein ame­ri­ka­ni­sches M6 – Scharf­schüt­zen-gewehr mit Ziel­ein­rich­tung fand, eine Gas­pi­stole, jede Menge Muni­tion, kleine eier­för­mige Hand­gra­na­ten, eine Metall­ki­ste mit in Holz­wolle ver­pack­ten Zün­dern und ein Che­mi­ka­lien- und Bastel­ka­bi­nett, mit dem man nach mei­ner unmaß­geb­li­chen Ein­schät­zung ziem­lich gemeine Spreng­sätze bauen konnte.

(gekürzt)


Alle Rechte beim Autor. Der Abdruck erfolgt mit freund­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.
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