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Hochstand

Anne Gallinat

 

Das ist wider­lich! Ich bin wider­lich! Gal­len­saft schmeckt bit­ter. Weißt du das, Nina? Ist dir auch schon mal die Galle hoch­ge­kom­men? Das inter­es­siert dich nicht? Ganz und gar nicht? Hast kein Mit­leid? Nein, du hat­test nie­mals Mit­leid. Du hast mich nie gesucht. Warum auch? Trotz­dem hast du einen Vater. Einen Ver­rück­ten, der im Wald auf einem Hoch­stand hockt und friert und friert und seine eigene Galle schmeckt und schluckt und schmeckt. Idiot, wer­den mich alle nen­nen. Einen Spin­ner. Es wird dir pein­lich sein. Du wirst dich her­aus­re­den: „Ich kenne den Men­schen nicht.“ Genau so. Eine Weile wer­den die Zei­tun­gen berich­ten. Es wird wir­beln. Man urteilt. Ver­ur­teilt. Nein, nicht die Gesell­schaft. Es gibt doch Hartz IV. Hätte sich doch nicht so anstel­len müs­sen, der Ham­pel­mann. Der war nichts. Ist nichts. Wird nichts. Und wenn’s genug gewir­belt hat und nie­mand mehr hören will vom Gal­le­schlucker, weil man’s nicht sel­ber gallebit­ter im Munde schmecken will, dann schweigt man sich aus. Und die Zei­tun­gen wir­beln um den näch­sten Irren. Alles ver­ges­sen. Alles weg­ge­wischt. Ihr wischt mich weg. An mich konnte sich noch nie jemand erinnern.
Wozu auch? Da war einer, der sich feige durchs Leben geflüch­tet und irgend­wann ver­flüch­tigt hat.
Alles wie bei allen? Eben nicht. Eben nichts. Schule. EOS. Na ja. Gerade so, weil’s Papa­chen Offi­zier war. Dann Holz­fach­ar­bei­ter mit Abitur. Holz hatte wenig­stens was mit Wald zu tun. Für dich, Papa, war’s die näch­ste Ent­täu­schung. VEB Hel­lerau Möbel. Nach der Wende Luft und Leere. Kurz mal Schwein gehabt. Ver­tre­ter einer Trep­pen­bau­firma. Trepp­auf. Treppab. „Guten Tag. Eine Treppe im neuen Haus? Holz. Stahl. Beton. Sie soll­ten eine Spin­del­treppe neh­men. Spart Platz. Nein doch. Spin­del- und Wen­del­trep­pen wer­den oft ver­wech­selt. Eine gute Ent­schei­dung. Eine preis­werte Ent­schei­dung. Danke für den Auf­trag. Auf Wie­der­se­hen.“ Treppab. Treppab. Treppab. Ent­las­sung. Arbeits­amt. Und dann nichts mehr. Und dann? Ging das Flüch­ten erst rich­tig los. Bin wei­ter trepp­auf und treppab. Hab wei­ter Trep­pen ver­trie­ben. Nie­mand wusste, dass ich nie­mand war. Ein Hoch­stap­ler. Ein Trep­pen­ver­tre­ter, der nichts mehr zu ver­kau­fen hatte. Hab ein­fach wei­ter­ge­macht. Und wenn sie mir drauf­ge­kom­men sind, bin ich in die näch­ste Stadt gezo­gen. Und wie­der Trep­pen und der näch­ste Umzug. Wer nichts zu ver­kau­fen hat, kann keine Miete zah­len. Ja doch, Nina. Hast ja recht. Wo hät­test du mich fin­den sollen…


Alle Rechte bei der Autorin.
Abdruck mit freund­li­cher Geneh­mi­gung der Autorin.

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