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Heute lernen wir Tschüß zu sagen

Stefan Petermann

 

Heute ist die Katze gestor­ben. Vom Baum ist sie gefal­len. Eigent­lich kön­nen Kat­zen das ja gut. Auf Bäume klet­tern. Und fal­len. Aber von wegen sie­ben Leben und immer auf den Pfo­ten lan­den. Dies­mal nicht. Viel­leicht hat ein Vogel sie auf­ge­schreckt. Oder ein Kind hat von unten geschrien. Jetzt ste­hen die Kin­der um die tote Katze herum. Sie sagen „Liebe Miez!“ und „Steh auf, Miez!“ und „Was ist denn mit der Miez?“. Eines der Mäd­chen drängt die ande­ren Kin­der ener­gisch zurück und sagt, dass die Miez schla­fen will und alle Kin­der ruhig sein sol­len. Sie legt die Fin­ger an die Lip­pen und pssst die ande­ren Kin­der an. Iffi muss wäh­rend­des­sen einen Streit am Sand­ka­sten schlich­ten. Ein Mäd­chen hat einen Jun­gen an den Haa­ren gezo­gen, und der Junge hat dar­auf­hin einen Eimer Sand über das Mäd­chen gekippt. Beide wei­nen, und weil sie wei­nen, wei­nen andere Kin­der mit. Wer nicht am Sand­ka­sten ist und weint, ist bei der Katze und schaut. Bis Iffi das mit­be­kommt, ver­ge­hen einige Minu­ten. Schnell nimmt sie einem Jun­gen das Stöck­chen aus der Hand, mit dem er die Katze angig­gelt. „Die Miez soll sprin­gen“, sagt er und bricht in Trä­nen aus, weil er kein Stöck­chen mehr hat. Iffi bringt die Kin­der ins Haus und erklärt ihnen, was mit der Katze pas­siert ist. „Die ist jetzt im Kat­zen­him­mel“, sagt Iffi, und die Kin­der schauen durch das Fen­ster hin­aus in den Him­mel und fra­gen, warum die Katze jetzt flie­gen kann, und sagen, dass sie auch flie­gen möch­ten und dort sein wol­len, wo die Katze ist. Iffi erklärt, dass die Katze fest schläft und nie­mand sie jemals wie­der auf­wecken kann. „Aber mor­gen doch?“, fragt das Mäd­chen mit dem Sand in den Haa­ren. „Nie­mals mehr“, sagt Iffi. Ver­ständ­nis­los schaut das Mäd­chen Iffi an, weil es sich nie­mals nicht vor­stel­len kann. Spä­ter gibt es Essen und danach wird geschla­fen. Doch kein Kind schläft, alle flü­stern über die Katze und die, die nicht flü­stern, haben Angst, so fest wie die Katze ein­zu­schla­fen. Also zeich­net Iffi am Nach­mit­tag an die Tafel. Sie malt eine Frau mit kur­zen Haa­ren. Das ist sie selbst, und die Kin­der erken­nen Iffi sofort. „Und wo sind wir?“, fra­gen sie, und Iffi zeich­net die Kin­der auf die Tafel. Sie fas­sen sich alle an den Hän­den und lau­fen über eine Wiese. „Was für eine Wiese?“, fra­gen die Kin­der, und Iffi malt Blu­men in die Wiese, und die Kin­der fra­gen: „Was sind das für Blu­men?“ Und Iffi malt gelbe Krin­gel um die Blü­ten und die Kin­der fra­gen: „Warum Son­nen­blu­men?“ Und Iffi meint, dass die Katze Son­nen­blu­men mochte. Sie zeich­net Denk­bla­sen, für jeden Kopf eine, auch für ihren. In jede Denk­blase malt sie eine Katze hin­ein, genauso gescheckt wie die Katze es war. Und über das Bild mit Iffi und den Kin­dern in der Son­nen­blu­men­wiese, die alle an die Katze den­ken, schreibt Iffi: Heute ler­nen wir Tschüss zu sagen.

Am näch­sten Tag stirbt Iffi. Sie steht mit dem Fahr­rad auf der Links­ab­bie­ge­spur an der Kreu­zung. Es ist früh am Mor­gen. Vom Berg her kommt ein Lkw. Eigent­lich sollte er an der Ampel stop­pen, doch weil die Brem­sen nicht funk­tio­nie­ren, rollt er wei­ter und wird immer schnel­ler. Rechts von Iffi und hin­ter ihr war­ten Autos. Sie kann nur nach vorn aus­wei­chen, aber von dort rast der Lkw auf sie zu. Über­haupt glaube ich, dass viel zu wenig Zeit ist zwi­schen Gerade geschieht etwas Furcht­ba­res und Was mache ich jetzt? Für Was mache ich jetzt? ist fast nie Zeit. Leon, der hin­ter dem Fahr­rad im Anhän­ger sitzt, ist nicht sofort tot. Son­dern erst im Krankenhaus.

***

Theo sagt: „Das ist doch alles instant, alles aus zwei­ter Hand, schon gefil­tert und abstra­hiert. Das hat doch nichts mit dem zu tun, wie es mir wirk­lich geht.“ Da hat Theo recht. Immer geht etwas ver­lo­ren von drin­nen nach drau­ßen und in unse­rem Fall min­de­stens drei­mal so viel. Wie sollte das auch anders sein? Wenn man dafür genau die rich­ti­gen Worte fin­den könnte, die Worte, die alles auf den Punkt brin­gen und genau das aus­drücken, was in einem vor­geht, wäre das nicht grau­sam für alle, die nicht so füh­len? Denn wenn sie diese Worte hören, dann wäre es unmög­lich, sich nicht so zu füh­len. Oder in mei­nem Fall: nichts mehr zu füh­len. Wenn Theo was sagt, hören wir zu. Theo ist schon ewig in der Gruppe, es gibt nie­man­den, der die Gruppe ohne Theo kennt. Des­halb hat sein Wort Gewicht. Auch wenn es manch­mal kei­nen Sinn ergibt. Aber man muss nur ein paar Tage war­ten, ganz gedul­dig, bis sich alles fügt. So wie man auf ein 3‑D-Bild schaut und wenn man glaubt, man wird nie etwas erken­nen, springt plötz­lich ein Del­fin auf einen zu, ein Del­fin oder ein Eis­bär oder das Wahr­zei­chen einer gro­ßen Stadt. Das war nicht immer so. Am Anfang wusste ich nicht, wie ich mit Theo umge­hen sollte. Hat geschimpft und alle run­ter­ge­zo­gen und beim Buf­fet trotz­dem nach den dick­sten Häpp­chen gegrif­fen. Fast wäre ich wegen ihm nicht wei­ter zur Gruppe gegan­gen. Theo ist nicht gerade das, was man ein leuch­ten­des Vor­bild nennt. Dabei braucht man das drin­gend. Und es muss weder leuch­ten noch Vor­bild sein. Aber man braucht irgend­et­was. Anson­sten dreht man frei. Man wird ja ohne­hin schon fer­tig­ge­macht. Von den Umstän­den und den Näch­ten sowieso. Mit Schla­fen ist es erst mal vor­bei. Da blei­ben nur Tablet­ten. Alle hier neh­men Tablet­ten, das ist was, die hat ein Arzt ver­schrie­ben, weil jemand die her­ge­stellt hat, und beim Her­stel­len muss sich jemand etwas gedacht haben. Beim Her­stel­len der Tablet­ten geht es um Hilfe, che­mi­sche Hilfe, wir neh­men alles, was wir krie­gen kön­nen, und weil das nicht viel ist, sind Tablet­ten schon mal ein guter Anfang.

Ich glaube, dass ich mit mei­nem Glück das Glück von ande­ren stehle. Was ich zu viel habe, muss von jeman­dem kom­men. Ich habe kei­nen Pakt geschlos­sen, würde jedoch gern und die Hälfte von mei­nem Glück her­ge­ben, wenn jemand dadurch die Hälfte von sei­nem Pech abge­ben könnte. Das sagt sich hin­ter­her natür­lich leicht. Über­haupt ist alles leicht, was ich sage, es hat kein Gewicht außer­halb der Gruppe, außer­halb der Gruppe ist alles, was ich sagen könnte, unan­ge­bracht, des­halb habe ich mich ent­schie­den, dass es nichts geben darf, über das ich reden müsste. Nicht ein­mal Theo weiß davon. Glück­li­cher­weise. Er würde sonst rich­tig gran­tig wer­den. Er würde von den Pha­sen reden, durch die jeder muss, und er würde mir vor­wer­fen, ich würde noch in der ersten fest­stecken, der ver­damm­ten ersten Phase, wie Theo sie nennt. Das muss nichts hei­ßen, er nennt auch die ande­ren Pha­sen ver­dammt. Aber er ahnt nichts, er denkt, ich bin schon zwei Pha­sen wei­ter, und des­halb werde ich zuvor­kom­men­der behan­delt. Inner­halb der Gruppe.

Iffis Schwe­ster hat mir die Geschichte von der Katze erzählt. Die Schwe­ster war die Ein­zige, die mit mir gespro­chen hat. Nicht sofort, aller­dings auf dem Flur des Gerichts. Da war ich schon ein freier Mann, auch wenn nie­mand ver­ste­hen konnte, aus wel­chem Grund. Nie­mand hat mich ange­schrien und nie­mand hat die Fäu­ste geballt, nie­mand ist auf­ge­sprun­gen und hat mich ver­flucht. Sie waren nur so still, Iffis Mann und Iffis Toch­ter und Iffis Eltern und Iffis Groß­el­tern und Iffis Tan­ten und Iffis Freunde und Iffis Arbeits­kol­le­gin­nen und Iffis Nach­barn. Die waren die Zeit über nur still, ihre Blicke habe ich in mei­nem Nacken gespürt. Doch das war nicht mal das Schlimm­ste. Ich hätte mich ja selbst weg­ge­schlos­sen, dafür hätte man keine Sach­ver­stän­di­gen her­an­zie­hen müs­sen. Die haben mich doch nur ent­la­stet. Was kann ich für die Brem­sen? Ich hab’ sie doch getre­ten, ich hab’ doch gebrüllt „Aus dem Weg!“, was heute bescheu­ert klingt, so wie frü­her beim Rodeln „Bahn Frei!“ oder „Platz da!“. Was hätte ich denn noch tun kön­nen, außer die Brem­sen zu tre­ten, die nicht bremsten?

Manch­mal ist zwi­schen Gerade geschieht etwas Furcht­ba­res und Was mache ich jetzt? genü­gend Zeit, um etwas zu machen. Um ver­su­chen zu steu­ern, und damit genau auf die Links­ab­bie­ge­spur der Kreu­zung zu len­ken. Doch die Sach­ver­stän­di­gen haben mich von aller Schuld frei­ge­spro­chen, sie haben sogar behaup­tet, ich hätte ver­ant­wor­tungs­voll gehan­delt, weil auf der ande­ren Seite der Kreu­zung eine Schul­klasse auf Grün war­tete, und das wäre der direkte Weg für den Lkw gewe­sen. Aber ich habe gelenkt und ich habe ver­ant­wor­tungs­voll gehan­delt und bin des­halb frei von jeder Schuld. Des­halb waren alle so still. Ich weiß nicht, was alle dach­ten. An der Stelle von Iffis Schwe­ster hätte ich mich jedoch nicht ange­spro­chen, ich hätte nicht die Geschichte von der Katze erzählt. Viel­leicht ist die Katze nur aus­ge­dacht, viel­leicht wollte mich Iffis Schwe­ster trösten.

„Trost“, sagt Theo, „Trost kön­nen wir von nie­man­dem erwar­ten. Nur von uns selbst.“ Das sagt er den Leu­ten, die schon in Phase drei sind, also Leu­ten wie mir. Und dann erzählt uns Theo seine Geschichte. Sie soll uns Mut machen, sie soll uns anlei­ten und Bei­spiel sein, aber ganz ehr­lich, sie ist ein­fach depri­mie­rend, so wie die Geschich­ten von allen in der Gruppe depri­mie­rend sind. Was soll ich dar­aus ler­nen? Dass man am Ende zusam­men­sitzt und sich eine furcht­bare Sache nach der ande­ren anhört, um spä­ter am Buf­fet nach Theo die zweit­dick­sten Häpp­chen abzu­grei­fen? Das kann’s doch nicht sein. Ich habe Theo erzählt, dass ich ver­mut­lich in Kürze aufs Amt gehe und mich dort aus­tra­gen lasse. Keine Kir­chen­steuer mehr. Nicht aus finan­zi­el­len Grün­den, füge ich hinzu, für den Fall, dass er nicht ver­steht. Doch Theo ver­steht. „Lass bloß das aus dem Spiel“, faucht er mich an, und mit das meint er nicht die finan­zi­el­len Gründe. Wahr­schein­lich hat er recht und wahr­schein­lich werde ich mich trotz­dem aus­tra­gen las­sen. Das wäre immer­hin die erste aktive Hand­lung mei­ner­seits. Viel­leicht komme ich ja so in Phase zwei. Die ver­dammte Phase zwei.

Heute hat sich im Bäcker­la­den ein klei­ner Junge in abge­wetz­ten Hosen zu mir umge­dreht, gerade als ich gehen wollte. Er hat den Arm geho­ben und leise „Tschüss“ gesagt. Ich kenne ihn nicht, und er kennt mich nicht, und trotz­dem hat er „Tschüss“ gesagt. Ich bin vor die Tür getre­ten, das Brot warm gegen mei­nen Bauch gedrückt, und habe geweint, weil jemand „Tschüss“ gesagt hat. Ein klei­ner Junge, er könnte in Leons Alter sein. Zu Hause habe ich ein Bild gemalt, und ich habe etwas über das Bild geschrie­ben, und bestimmt weiß jeder, was auf dem Bild zu sehen ist und was in der Denk­blase geschrie­ben steht. Auch wenn ich noch keine Ahnung habe, wie das gelin­gen soll.


aus: Aus­schau hal­ten nach Tigern. Erzäh­lun­gen, asphalt & anders Ver­lag, Ham­burg 2011.
Mit freund­li­cher Geneh­mi­gung des Ver­la­ges und des Autors.
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