Rita Dorn
Die dicke Marie
Frank kannte ihn schon lange: Herr Kun war vor Jahren der Mathelehrer seines Sohns
gewesen, ein strenger, aber gerechter Lehrer. Er setzte sich ein für seine Schüler. Mathe war
nicht das Lieblingsfach seines Sohns gewesen, er erinnert sich an sorgenvolle
Elterngespräche und daran, wie froh er gewesen war, als der Sohn schließlich sein Abitur
bestanden und sich auf den eigenen Weg gemacht hatte. Hin und wieder liefen Herr Kun und
er einander auch später noch über den Weg. In einer kleinen Stadt begegnet man einander,
das bleibt nicht aus. Dann wechselt man einen Gruß, vielleicht ein paar freundliche Worte.
Eines Tages jedoch kam ihm etwas Seltsames zu Ohren: Mathelehrer Kun hat sich
unsterblich in eine Kollegin verliebt und Hals über Kopf seine Frau verlassen! Auch diese
Kollegin, Frau Thiess, war verheiratet und hat nun für ihn ihren Mann verlassen.
Na sowas. Wochenlang hatte das kleine Städtchen reichlich Gesprächsstoff und immer neue
Gerüchte machten die Runde. Schließlich hieß es, die beiden bauen gemeinsam ein Haus und
wollen zusammenleben. Herrn Kun trieb es von der Schule weg, an der sie beide unterrichtet
hatten. Eine junge Liebe nicht mehr ganz junger Lehrer unter den Argusaugen dutzender
Schüler und deren Eltern, das war auf die Dauer wohl nicht durchzuhalten.
Das sahen die Kleinstädter ein, aber immer häufiger mischte sich in die Gerüchte auch die
Andeutung, Herr Kun werde langsam komisch. Naja, der ist verliebt! lachten dann die einen.
Hm, aber trotzdem… Der grüßt ja nicht mal mehr! grummelten andere.
Schließlich schlug die Nachricht ein, dass Herr Kun an Alzheimer erkrankt sei.
Die Kleinstädter teilten sich in zwei Lager. Die einen meinten: Das geschieht ihm recht, hat
sich wohl übernommen mit neuer Frau und neuem Haus. Wäre er mal lieber geblieben, wo
er war. Man kann nun mal in seinem Alter nicht mehr einfach alles stehen und liegen lassen.
Die anderen fühlten Mitleid. Frisch verliebt und nun so viel Arbeit mit dem Hausbau, die
Handwerker, die Materialbeschaffung, der Ärger mit den Ämtern und Behörden… Und jetzt
ist er auch noch krank. Wie sollen die beiden das nur schaffen.
Sie schafften es nicht.
Herr Kun hatte eine grassierende Form von Alzheimer, innerhalb weniger Monate verfiel er
körperlich und verlor zusehends sich selbst, die Person, die er einmal gewesen war.
Er wurde zum Pflegefall.
Das neue Haus stand, beide waren dort eingezogen, aber nach wenigen Wochen erzählte
man sich im Städtchen, Frau Thiess habe ihn „hinausgeworfen“. Wie kann sie nur! sagten die
einen. Kann man doch verstehen, meinten die anderen. Sie schafft das eben nicht.
Neuerdings sah man Herrn Kun wieder häufiger mit seiner Frau durch die Stadt gehen.
Langsam gingen sie, er an ihrer Hand wie ein Kind. Geduldig blieb sie stehen, so oft er etwas
näher anschauen wollte oder einfach für Momente nicht mehr wusste, wo er war.
Sie hat ihn zurückgenommen! berichteten die, die es wissen mussten, denen, die es hören
wollten. Na sowas. Wie kann sie nur. Das hätte ich nicht gemacht! schnaubten die einen, das
hat er nicht verdient! Sie hat eben ein großes Herz, meinten die anderen.
Eines Tages kam Frau Kun mit ihrem Mann an der Hand zu Frank in den Laden. Sie führte die
Gespräche, überlegte, entschied sich für etwas Passendes. Er hatte still dabeigestanden und
seine Blicke irrten ratlos in der Ladenstube umher.
Als es ans Bezahlen ging, wandte sie sich freundlich zu ihm und sagte mit einem Lächeln: Na,
dann hol mal die dicke Marie raus, mein Schatz! Da hob er unendlich langsam den Kopf und
starrte sie mit weit geöffneten, leeren Augen an. Sie hielt seinem Blick stand. Wartete.
Lächelte ihm zu. Doch er rührte sich nicht, er stand einfach nur da, die Augen fest auf seine
Frau gerichtet, und sagte kein Wort. Er hatte nicht verstanden, was sie von ihm wollte.
Behutsam klopfte sie ihm auf den Arm. Ist schon gut, das kriegen wir schon hin, sagte sie. Sie
griff in seine Hosentasche, holte das Portemonnaie heraus und zahlte. Langsam gehend
verließen sie den Laden.
Frank hat Herrn Kun nie wieder gesehen. Wenige Wochen später ist er gestorben.
Seine Frau soll bis zuletzt seine Hand gehalten haben.
aus: Was ich sehe. Unterwegs zwischen Gestern, Heute und Niemals. Die Rechte liegen bei der Autorin. @Rita Dorn 2025. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin.