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Der rote Ronny

M.Kruppe

 

Ich saß wie so oft in mei­ner Stamm­kneipe, damals, als es in die­sem Kaff noch eine Kneipe gab, in der man rau­chen durfte. Ich trank gerade mein drit­tes Bier, als der rote Ronny rein­kam, sich an die Bar setzte und ein Wei­zen und einen Kla­ren bestellte.
Bevor er vor gut einem hal­ben Jahr sturz­be­trun­ken im Run­den Eck auf­tauchte, hatte ihn nie­mand zuvor in die­ser Stadt gese­hen. Er setzte sich direkt zu uns an den Stamm­tisch und erzählte allen seine Lebens­ge­schichte, die so phan­ta­stisch war, wie ein Roman von Terry Pratchet.
Und wie Säu­fer nun ein­mal sind, wenn sie ihre besten Jahre hin­ter sich haben, ging er uns gehö­rig auf die Ner­ven. Er sprach undeut­lich, aber schnell, wie­der­holte alles drei­fach, vier­fach, erzählte etwas von einer Spe­di­tion, die ihm mal gehörte, von einem dicken Konto und einer Frau in Thai­land, die er vor drei Jah­ren gehei­ra­tet habe. Wir glaub­ten ihm kein Wort, gin­gen aber den­noch auf ihn ein und heu­chel­ten Anteil­nahme an sei­ner Geschichte.
So macht man das doch? Dich schwa­felt ein voll­trun­ke­ner Frem­der mit Sto­ries zu und du tust so, als glaubst du ihm jedes sei­ner Worte. Du sprichst mit ihm, tust erstaunt, wo er Erstau­nen erwar­tet, tust mit­lei­dig, wo er Mit­leid erwar­tet, du tust erfreut und über­rascht, wo er Freude und Über­ra­schung erwar­tet. Du schämst dich für ihn, weil er so hacke­dicht ist und sich bla­miert. Du schämst dich für dich selbst, wegen dei­ner Abwer­tung. Und du schämst dich, weil du es nicht fer­tig­bringst, ihm ins Gesicht zu sagen, dass du ihm kein Wort glaubst.

Kei­ner kannte sei­nen rich­ti­gen Namen, also tauf­ten wir ihn Ronny. Denn »Ronny« war kein Name mehr, son­dern spä­te­stens seit der Elster­glanz-Para­doie auf den Film »300« der Inbe­griff eines Kli­schee-Ossis und wurde schnell zu ein Syn­onym für mäßi­gen Intel­lekt. „Alles Nul­len, de Ronnyfamilie“.
Ich will vor­weg­stel­len, dass ich nichts gegen die­sen Namen habe.
Ich weiß, wovon ich rede. Ich lasse mich seit der zwei­ten Klasse nur beim Nach­na­men anre­den, weil mein Vor­name auch eher Kör­per­ver­let­zung, im Min­de­sten aber see­li­sche Grau­sam­keit ist. Zumin­dest hier in Thü­rin­gen. Hier sagt man nicht Marko und spricht das ehr­wür­dig hoch­deutsch, oder gar im ursprüng­li­chen ita­lie­ni­schen Klang, mit rol­len­dem R.
Hier sagt man „Moor­gou“ und mit Ver­laub, das klingt nicht nur grau­sig, son­dern kit­zelt den Brech­reiz, brei­tet sich im Darm aus und lockert den Schließ­mus­kel. Es klingt, wie der Begriff für eine abar­tige Quark­speise die seit Wochen offen in der Sonne steht. Es klingt, als bezeichne man einen ekel­haft schlei­mi­gen Schimmelpilz.
So gese­hen, steht also mein Name dem Namen Ronny in nichts nach.

Und weil „Ronny“ für „Idiot“ steht, hatte der Säu­fer schnell sei­nen Namen weg. Wegen sei­ner roten Haare und dem wil­den, roten Voll­bart war auch der adjek­ti­vi­sche Bei­name schnell gefun­den und die Alli­te­ra­tion ver­lieh dem Gan­zen einen hüb­schen Klang. Immer noch bes­ser als „Moor­gou“.

Nie­mand wusste, wo der rote Ronny wirk­lich her­kam. Einige Tage bevor er zum ersten Mal in der Kneipe auf­kreuzte, sah ich ihn im Park hin­ter dem Super­markt, da, wo die Eli­te­ein­heit der Alko­hol­ver­nich­tungs­ab­tei­lung von mor­gens bis abends beflis­sen ihren Dienst ableistet.
Er stand bei den ande­ren Säu­fern mit einer Fla­sche Stern­burg in der einen und einer Kunst­stoff­tüte in der ande­ren Hand. Der Nach­schub­beu­tel. Wahr­schein­lich gab er auch hier gerade seine Story vom Geschäfts­mann und der thai­län­di­schen Ehe­frau zum Besten.

Falls es stimmt, was er erzählte, bestä­tigt sich ein­mal mehr, was diese Klein­stadt ist. Ein schwar­zes Loch, das dich an sich zieht, dich in sich saugt und schnell seine zer­stö­re­ri­schen Kräfte ent­fal­tet. Ein men­schen­fres­sen­der Sud ist diese Klein­stadt, der dir die Seele aus dem Leib reißt und dein Herz frisst. Und wo Seele und Herz waren, pflan­zen dir die Klauen die­ses Mon­sters eine Fla­sche Stern­burg ein, oder eine Kanne Gold­brand oder eine Bahn bil­li­ges, gestreck­tes Crystal.

Der rote Ronny war ein abge­ris­se­ner Typ, höch­stens Anfang fünf­zig. Er erzählte, dass er aus dem Westen sei, woher genau, hat er nie erwähnt, oder ich hab’s ver­ges­sen, auf jeden Fall sei er aus dem Westen. Er sprach ein recht gutes Hochdeutsch.
In den Neun­zi­gern habe er eine große Spe­di­tion gehabt. Sieb­zehn LKWs, „kannst du dir das vor­stel­len? Sieb­zehn! Das is ne ganze Menge! Und ich war reich!“ – sagte er. Geld spielte keine Rolle. Doch irgend­wann ver­ließ ihn seine Frau wegen eines Jün­ge­ren, der noch mehr Geld hatte.
Von da an sei es bergab gegan­gen. Er ver­fiel dem Alko­hol, ver­brachte seine Zeit haupt­säch­lich in Inter­net­ca­fés und lernte übers Netz eine Frau in Thai­land ken­nen. Kurz dar­auf ver­kaufte er seine Firma, flog nach Thai­land, hei­ra­tete und lebte dort wie ein König. Doch er stürzte tie­fer in Glä­ser und Whis­key­fla­schen, und war irgend­wann pleite.
Von sei­nem letz­ten Geld lei­stete er sich ein Flug­ticket nach Deutsch­land, um hier neu anzu­fan­gen. Er wollte für sich und seine Frau etwas auf­bauen, das Konto fül­len und wie­der zurück in das Süd­ost­asia­ti­sche Königreich.
Wie um alles in der Welt er aus­ge­rech­net hier, in die­ser Klein­stadt mit­ten in Thü­rin­gen stran­dete, wusste er selbst nicht so genau. Oder nicht mehr. „Auf ein­mal war ich hier.“, sagte er grin­send und hob belu­stigt die Schultern.

Von nun an kam der rote Ronny regel­mä­ßig ins Runde Eck und man konnte sei­nem Ver­fall förm­lich zusehen.
Er trug immer die­sel­ben Kla­mot­ten, als habe er keine ande­ren. Und die sahen nie eine Wasch­ma­schine. Löcher und Risse zier­ten die einst beige Cord­hose, das schwarz-rote Holz­fäl­ler­hemd war inzwi­schen vol­ler Flecken.

Eines nachts fand ich ihn schla­fend auf einer der Bänke im Park. Er lag mit dem Gesicht in sei­nem Erbro­che­nem und hatte sich ein­ge­pisst. Ich ver­suchte, ihn zu wecken, ihn dazu zu bewe­gen, nach Hause zu gehen, wo auch immer das war, aber er sah mich nur aus halb geöff­ne­ten Augen an und ver­stand nicht, was ich von ihm wollte. Also ging ich wei­ter, doch das schlechte Gewis­sen nagte an mir. So konnte ich ihn doch nicht lie­gen las­sen! Es war Win­ter, die Tem­pe­ra­tur über­stieg kaum null Grad Cel­sius. Er würde dort kre­pie­ren. Ich tat, was ich nicht gern tue, aber weil er über­haupt nicht auf mich reagierte, ging ich zur Tele­fon­zelle um die Ecke und wählte die Eins Eins Null.
Ohne mei­nen Namen zu nen­nen, schil­derte ich die Sach­lage und wollte schon auf­le­gen, als die brum­mige Stimme am ande­ren Ende gereizt fragte: „Und was sol­len wir da jetzt machen?“
„Na einen Strei­fen­wa­gen dort­hin schicken, einen Arzt viel­leicht, dafür sor­gen, dass der Mann in die Obhut sei­ner Woh­nung oder sonst wohin kommt!“, ant­wor­tete ich rup­pig, hängte ein und verschwand.

Ich setzte mich einige Meter ent­fernt auf eine Bank in der Nähe eines Gebü­sches und war­tete. Es dau­erte einige Minu­ten, bis der Strei­fen­wa­gen am Park hielt, zwei Beamte mit Taschen­lampe kamen und den roten Ronny zu wecken ver­such­ten. Sie bemerk­ten mich nicht. Einer der Bei­den stieß den Schla­fen­den mit sei­nem Stie­fel und schrie ihn an, dass das hier kein Hotel sei. Nach einer Weile setzte sich der rote Ronny auf. Er war völ­lig benom­men, wusste offen­sicht­lich nicht, wie ihm geschah. Die Cops zogen sich Gum­mi­hand­schuhe über und tru­gen ihn zum eben ange­kom­me­nen Ret­tungs­wa­gen. Er ließ es gesche­hen, ließ sich ein­la­den und weg­fah­ren. Im Schein er Stra­ßen­la­ter­nen sah ich die ange­wi­der­ten Gesich­ter der Beam­ten, sah, wie sie sich ekel­ten und hörte, wie sie auf ihn und sei­nes­glei­chen fluchten.

Ich hatte den roten Ronny in letz­ter Zeit sel­ten gese­hen. Hin und wie­der begeg­ne­ten wir uns auf der Straße, grüß­ten uns, aber lie­fen wei­ter. Und nun stand er hier im Run­den Eck und fragte nach dem Chef. Er war über­ra­schend gut geklei­det, hatte eine neue Jeans an, trug eine bei­nahe edle Leder­jacke und einen dicken, roten Woll­schal. Außer­dem war sein Gesicht nicht mehr so aus­ge­mer­gelt, er war rasiert und in sei­nen Augen fun­kelte eine Klar­heit, die ich bei ihm noch nie gese­hen habe.
„Der ist nicht da.“, sagte ich und er wandte sich an mich. Ob ich Eng­lisch könne, fragte er. Ich ver­neinte, fragte aber den­noch, was er wis­sen wolle.
„Na ja, na ja, der Chef über­setzt … also … der über­setzt mir immer mal was von … von mei­ner Frau. Und sie hat unten jemand‘, der ihr meine Sachen über­setzt.“, stot­terte er hek­tisch und über­schlug sich fast beim Reden. Hilf­los starrte er in die fast leere Kneipe, fum­melte dabei ner­vös an sei­nem Tablet und wollte etwas sagen, was ihm jedoch nicht recht gelang.
„Na zeig mal her!“, sagte ich.

Als fiele eine rie­sige Last von ihm ab, setzte er sich an mei­nen Tisch und zit­terte sein Tablet aus der leder­nen Hülle.
Manch­mal frage ich mich, warum Men­schen, die ohne­hin kaum Geld haben, unbe­dingt sol­che Din­ger brau­chen. Es schien aller­dings tat­säch­lich etwas an sei­ner Story dran zu sein.
„Hier. Das hier hat mir meine Frau geschrie­ben … vor­hin. Sie ist bissl sauer, weil … na … na weil ich nicht kom­men kann. Na wegen … also wegen Weih­nach­ten.“, sagte er und reicht mir das Teil rüber.
Face­book. Eine Unter­hal­tung. Sie auf Eng­lisch, er in einem ast­rei­nen, feh­ler­freien Deutsch.
Ich ver­suchte, all meine Kennt­nisse zusam­men­zu­neh­men und über­setzte vage die zwei Sätze.
„Sie sagt, sie ist trau­rig, dass du nicht da bist. Und sie sagt, dass wenn es dir nur um Sex geht, du dir sech­zig Euro neh­men sollst, um eine gute Deut­sche Frau von der Straße zu ficken.“
„Also … also ist sie trau­rig? Trau­rig. Nicht … wütend?“
Ich über­legte. »Sad« heißt nicht wütend, oder? Oder doch? Ich hatte keine Ahnung, sagte aber bestimmt: „Nee, trau­rig steht hier.“

Seine Anspan­nung löste sich ein wenig und er sah fast glück­lich aus. „Oh … ist gut. Sie war sauer, weil … na weil ich ihr ein Foto von mir geschickt habe. Also na … also … die Sol­da­ten … ich bin kein Sol­dat … na … die Sol­da­ten in Afgha­ni­stan … also … die Frauen von den Sol­da­ten … also, die schicken ihren Freun­den ja auch immer Bil­der von sich … also … na … damit sie … du weißt schon … und das hab ich auch gemacht und … wollte … also ich … wollte, auch eins von ihr. Und da ist sie … also … da ist sie … so ein biss­chen … also so ein biss­chen aus­ge­ra­stet, weil … sie sagt … na sie sagt … na dass es ihr nicht um … Sex geht. Und ich hab gesagt … also dass das doch … also auch … so biss­chen … also … na wich­tig ist.“
Nach jedem Wort schnappte er kurz­at­mig nach Luft wie ein Asth­ma­ti­ker, redete schnell und stol­perte im Spre­chen über jedes zweite Wort. Aber er war kein typi­scher Stot­te­rer. Ich kenne Stot­te­rer, die reden anders. Er über­schlug sich nur so, weil er so auf­ge­regt war, weil sein Herz das Blut mit 160 BpM durch seine Venen jagte.

„Aha.“, sagte ich, „das scheint sich ja jetzt erle­digt zu haben.“
Ich wollte ihm nicht sagen, dass das, was ich da gele­sen hatte, schon nach Wut klang. Und wenn ich eins und eins zusam­men­zählte, dann war der zweite Satz Aus­druck tief­sten Ärger­nis­ses und unge­fähr so zu ver­ste­hen: „Wenn es dir ums Ficken geht, dann such dir doch ne deut­sche Schlampe, gib ihr sech­zig Euro und fick sie, du Arsch!“.
Ich sagte nichts. Er sah so glück­lich aus, als er sich bedankte und ver­schwand. Ich hatte Mit­leid mit ihm, wie ich oft Mit­leid mit den Aus­ge­sto­ße­nen habe, mit den Ver­lie­rern und Verlachten.

Zumin­dest die thai­län­di­sche Frau gab es also tat­säch­lich. Ob die Bei­den wirk­lich ver­hei­ra­tet waren, erfuhr ich nicht. Denn nach­dem sich der rote Ronny ver­ab­schie­dete, habe ich ihn nie wie­der­ge­se­hen. Nicht im Run­den Eck, nicht im Park hin­ter dem Kauf­land, nicht auf den tri­sten Stra­ßen, in den dunk­len Gas­sen und auch nicht an den ande­ren Plät­zen, wo sich die ver­schie­de­nen Trin­ker-Cli­quen der Stadt für gewöhn­lich tra­fen. Noch heute frage ich mich oft, was wohl aus ihm gewor­den ist? Hatte er den Absprung geschafft? Hatte er sich viel­leicht ein Ticket lei­sten und zurück zu die­ser Frau flie­gen kön­nen? Oder war doch alles nur eine Lüge, eine Geschichte, mit der er meinte, hier im Kaff der guten Hoff­nun­gen Fuß zu fas­sen. Eine Geschichte, die in vie­len Men­schen Mit­leid her­vor­rief. Viel­leicht gab ihm die­ses Kaff doch weni­ger Hoff­nung, als ande­ren, die manch­mal, wenn der Som­mer über der Stadt lag, selbst hier wirk­li­che Hoff­nung fan­den. Denn der Som­mer ver­mag es, selbst ins dun­kel­ste Loch ein biss­chen Licht zu brin­gen, ein biss­chen Wärme und das Gefühl, am Leben zu sein. Der rote Ronny kam im Som­mer. Und er ging im Winter.
Viel­leicht war er auch nur ein Rei­sen­der. Einer, den es nir­gends lange hält. Einer, der von Stadt zu Stadt, von Kaff zu Kaff zieht und irgend­wann merkte, dass eine gute Geschichte der Schlüs­sel zu den Türen der Men­schen ist.

Die Säu­fer und Abge­häng­ten blie­ben, was sie schon immer waren. Säu­fer und Abge­hängte. Von ihnen würde sich bald nie­mand mehr an den roten Ronny erin­nern. Aber ich dachte noch lange an ihn und daran, ob seine Story nun stimmte und vor allem: wohin es ihn ver­schla­gen hat.


aus: Geschich­ten vom Kaff der guten Hoff­nung, Edi­tion Out­bird, Gera 2020.
Alle Rechte beim Ver­lag Edi­tion Outbird.
Der Abdruck erfolgt mit freund­li­cher Geneh­mi­gung des Ver­la­ges und des Autors.
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