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Der falsche Mann

Klaus Jäger

 

Jens schaut ein wenig nei­disch auf den Strei­fen­po­li­zi­sten vor der Tür des Ein­kaufs­zen­trums. Gerne würde auch er die Uni­form tra­gen, zum Anfang wenig­stens, bis er eine Aus­bil­dung zum Kri­mi­na­li­sten gemacht hätte. Aber mit sei­nem Dia­be­tes, so hat ihm die Auf­nah­me­kom­mis­sion unmiss­ver­ständ­lich klar gemacht, hätte er gar keine Chance. Ver­wal­tung viel­leicht, aber Uni­form und Schuss­waffe – nada! Er seufzt und bahnt sich sei­nen Weg durch die Ein­käu­fer in Rich­tung Toi­lette. Als er sich das Hemd aus der Hose zieht, um sich den Insu­lin-Pen zu set­zen, ruft hin­ter ihm ein dün­nes ält­li­ches Männ­lein im wei­ßen Kit­tel, wohl der Toi­let­ten­mann: „He, was machen Sie denn da?“ –  „Ich spritze mir Insu­lin“, ant­wor­tet Jens so sach­lich wie mög­lich. Dass die Men­schen immer gleich was Schlim­mes den­ken. „Insu­lin. Frei­lich. Ich glaub mich hackt’s“, sagt das Männ­chen. „Ich ruf jetzt die Poli­zei!“ Jens ver­dreht die Augen. Er stopft das Hemd wie­der in die Hose und strebt dem Aus­gang zu. „Ich hab ihnen doch gesagt…“, fängt er an.
„Du gehst hier nir­gends hin!“ Der kleine Mann baut sich vor ihm auf. Das ist Jens dann doch zu bunt. Er schiebt den hef­tig pro­te­stie­ren­den Alten bei­seite und läuft in den Gang.
Dass der Mann noch den Sicher­heits­dienst alar­miert, bekommt er erst mit, als er von einem Wach­mann ange­ru­fen wird: „Sie da! Ste­hen­blei­ben!“ Och nee, nicht so ein Thea­ter auch noch. Mit einem Satz ist Jens im Fahr­stuhl. In der Tief­ga­rage hat er schon am Mor­gen sein Auto abge­stellt. Als er die Tür hin­ter sich zuschlägt, muss er erst ein­mal durchatmen.
Und noch einer scheint es eilig zu haben. Ein jun­ger Mann, viel­leicht fünf Jahre älter als er selbst, rennt vom Fahr­stuhl zu den Autos. Doch was ist das? Er pro­biert an zwei, drei Wagen, ob die Tür offen ist. Will der ein Auto klauen? Dann kramt er irgend­et­was aus der Hosen­ta­sche, holt aus und – schlägt einem Golf die Sei­ten­scheibe ein. In Jens erwacht der Detek­tiv, er star­tet sei­nen Skoda und legt den Rück­wärts­gang ein.

*

„Okay, ja, okay, ich habe ver­stan­den.“ Noch wäh­rend der Poli­zist mit dem Anru­fer spricht, winkt er hek­tisch nach dem Ein­satz­lei­ter. „Bert­ram, im Ein­kaufs­zen­trum haben sie ver­mut­lich einen Rausch­gift­süch­ti­gen beim Sprit­zen erwischt. Sucht die K nicht grade einen Dea­ler.“ Der Ange­spro­chene kneift die Augen zusam­men. Er ist seit der Lage­be­spre­chung heute Mor­gen beim Chef hoch sen­si­bi­li­siert. Gestern hat ver­mut­lich ein Dro­gen­dea­ler in einer Klein­gar­ten­an­lage am Dros­sel­hang einen Jun­kie ersto­chen. Aber ein Dea­ler, der selbst abhän­gig ist? Unty­pisch, aber jetzt egal.
„Haben wir eine Beschreibung?“
„Anfang bis Mitte 20, schlank, groß, kurze Haare, dun­kel­blaues Hemd und Jeans. Das Sicher­heits­per­so­nal hat ihn noch ver­folgt, aber nicht erwischt. Er ist mit einem dun­kel­grü­nen Fabia auf die Münt­zer­straße in Rich­tung Osten abge­bo­gen. Ein­hei­mi­sches Kenn­zei­chen, Zif­fer unbekannt.“
Eine Minute spä­ter heu­len drei Strei­fen­wa­gen vom Hof, fünf Minu­ten spä­ter star­tet der Poli­zei­hub­schrau­ber und ist das MEK, das mobile Ein­satz­kom­mando des Lan­des­kri­mi­nal­am­tes, alarmiert.

*

In der Stadt raste der Auto­dieb wie eine gesengte Sau. Tempo 100 statt 60. Jens hatte Mühe, bei des­sen hef­ti­gen Spur­wech­seln dran­blei­ben zu kön­nen. Aber er wollte es wie die Pro­fis machen, hat immer meh­rere Autos dazwi­schen gelas­sen und ver­sucht, ganz locker damit umzu­ge­hen. Trotz­dem hat es ein­mal bei­nahe gekracht, als er einen rechts über­ho­len musste, der gerade wie­der ein­sche­ren wollte. Jetzt auf der Land­straße dros­selt der Typ das Tempo. Offen­sicht­lich fühlt er sich nicht mehr ver­folgt. Hach, was wäre das für ein Gefühl, das Fen­ster run­ter­zu­las­sen, ein Blau­licht aufs Dach zu stel­len und den Typen ein­fach zu über­ho­len. Zivil­streife. Die Knarre und die Hand­schel­len ein­fach am Gür­tel der Jeans. Mal schauen, wo du mich hin­führst, du klei­ner Gang­ster, denkt Jens bei sich und kommt schon fast in Ver­su­chung, über sein Handy einen Not­ruf abzu­set­zen. Viel­leicht würde die Poli­zei ihn ja neh­men, wenn er ihnen einen Auto­dieb ans Mes­ser liefert.

*

Der Pilot zieht mit der lin­ken Hand am Collec­tive neben sei­nem Sitz, damit der Heli­ko­pter wie­der etwas an Höhe gewinnt. „Ich habe ver­stan­den“, sagt er in das Mikro­fon vor sei­nem Mund. Er tritt das linke Ruder nie­der und drückt den Cen­ter­stick leicht nach vorn. Der Hub­schrau­ber dreht sich, senkt seine Nase und nimmt Fahrt auf. Soeben wurde der gesuchte grüne Fabia gemel­det – schon gut drei Kilo­me­ter wei­ter, als ursprüng­lich ange­nom­men. Ein Auto­fah­rer hat die Poli­zei nach einem wag­hal­si­gen Über­hol­ma­nö­ver alar­miert. Der Heli war das Auge, dass dafür sorgt, dass die Ziel­per­son bis zum Ein­tref­fen des MEK nicht verlorengeht.

*

Jens lässt abrei­ßen, als der Golf auf eine wenig befah­rene Neben­strecke aus­weicht. Er möchte nicht unbe­dingt, dass der Typ da vor ihm abrupt stoppt, aus­steigt und ihm viel­leicht ein paar auf die Schnauze haut. Er ist kein Poli­zist, er kann sich nicht weh­ren, er ist allein.
Jetzt biegt der Mann in ein Gehöft ein. Sieht aus wie eine alte Stal­lung. Jens ver­lang­samt und stellt sei­nen Skoda ein­fach am Stra­ßen­rand ab. Er öff­net die Schei­ben und lauscht. Der Golf ist auf einen Innen­hof gerollt. Die Tür schlägt. Dann quietscht eine andere in ihren Angeln. Das Herz schlägt Jens bis zum Hals. Was soll er tun? Am Ende siegt die Neu­gierde. Er steigt aus und nimmt einen Weg quer­feld­ein, an dem Gehöft vor­bei, will sich von der Seite anschlei­chen, auf der keine Fen­ster sind.
Über ihm brummt ein Hub­schrau­ber. Blau-rot, ein Poli­zei­hub­schrau­ber. Don­ner­wet­ter, das geht schnell. Ist er nicht mehr der ein­zige, der den Auto­dieb ver­folgt? Doch der Hub­schrau­ber dreht nur über dem Gehöft und schwirrt wie­der ab. Jens lauscht ihm nach, ach­tet dann wie­der auf Geräu­sche aus dem Gehöft und pirscht sich näher heran.
Den Golf ent­deckt er unter einer Art Schlepp­dach, einem alt­mo­di­schen Car­port. So ist er weder von der Straße noch von der Luft aus zu erken­nen. Der Ganove hält sich offen­sicht­lich in die­ser alten Baracke auf. Als Jens eine Klo­spü­lung hört, weiß er Bescheid. Die ersten drei Fen­ster haben Milch­glas­schei­ben. Dort ist er jetzt. Jens nutzt den Augen­blick, rennt zur Baracke rüber und schmiegt sich an die Wand. Als er end­lich durch ein nur ange­lehn­tes Fen­ster ins Innere spä­hen kann, ist er starr vor Schreck. Das sieht aus, wie im Che­mie-Kabi­nett sei­ner alten Schule. Glas­be­häl­ter, Flüs­sig­kei­ten, ein Destil­lier­ap­pa­rat, Waa­gen, Päck­chen mit Chemikalien.
Was mache ich hier, fragt er sich in einem Anflug von Panik. Das ist kein gewöhn­li­cher Auto­dieb, das ist was mit Dro­gen, das ist zwei­fel­los ein paar Num­mern zu groß für ihn. Eine zweite Angst­welle über­rollt ihn, als ihm bewusst wird, dass er sein Handy ein­ge­schal­tet in der Hosen­ta­sche hat. Und drin­nen, wohl auf dem Flur, hört er Schritte. Wenn sein Tele­fon jetzt klin­gelte, war er erle­digt. Er lauscht auf die Schritte, um den Gano­ven zu lokalisieren.
Dann hört er gedämpfte Auto­ge­räu­sche. Türen schla­gen. Kom­men die Kom­pli­zen? Jens sieht sich hek­tisch um. Er ist jetzt auf Flucht pro­gram­miert. Seine Neben­nie­ren­rinde schüt­tet Unmen­gen von Adre­na­lin aus, so viel weiß er über sei­nen Kör­per. Und, dass Adre­na­lin der Gegen­spie­ler von Insu­lin war. Was es mit ihm machen würde, ist ihm völ­lig unklar. Klar war nur eins: Er muss hier weg. Sofort. Er rennt in die Rich­tung, aus der er gekom­men war. Als er hin­ter dem Stall in Deckung gehen kann, schaut er zurück.
Schwarz geklei­dete mas­kierte Män­ner mit Maschi­nen­pi­sto­len in der Hand ren­nen über den Hof. Die Tür fliegt auf, ein Mann springt raus, hebt eine Pistole und beginnt sofort zu feu­ern. Nach dem drit­ten Schuss platzt plötz­lich sein lin­kes Knie auf, Blut schießt her­aus, es ist wie im Film.
Jens hat genug gese­hen. Auf dem­sel­ben Weg, den er gekom­men war, durchs junge Getreide, läuft er zurück zu sei­nem Auto.

*

Sie schei­nen aus dem Boden zu sprin­gen: Plötz­lich sieht Jens zwei Mas­kierte vor sich, die Waf­fen erho­ben und dro­hend auf ihn gerich­tet. Da wird er auch schon von hin­ten gepackt und zu Boden gewor­fen. Erst Stun­den spä­ter, im Prä­si­dium, erfah­ren die Poli­zi­sten die ganze Geschichte: Wie sie den fal­schen Mann ver­folgt und den rich­ti­gen geschnappt haben.


aus: Der fal­sche Mann, Tolino Media 2017.
Alle Rechte beim Autor.
Der Abdruck erfolgt mit freund­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.

 

 

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