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Der erste Schlag

Siegfried Nucke

 

Er stand auf dem glit­schi­gen Feld­weg und wagte kei­nen Schritt mehr. Der blaue Pull­over war aus der Trai­nings­hose gerutscht. Er bemerkte es nicht, auch nicht, als der feuchte und kalte Wind an sei­nen Rücken drang. Unbe­weg­lich stand er und blickte auf die leh­mi­gen Pfüt­zen des Weges.
Vorige Woche war der Junge hier ange­kom­men. Es war die erste Reise, die er allein unter­nom­men hatte. Als er aus dem Zug aus­ge­stie­gen war, strahlte die Sonne. Vor dem Bahn­hof, der etwas außer­halb lag, streck­ten sich die Getrei­de­schläge bis zum Hori­zont. Ler­chen­schreie stie­gen dünn und spitz empor.
Hin und wie­der stri­chen die Schat­ten ein­zel­ner Wol­ken dar­über hin­weg. Der Junge rannte aus dem fla­chen Bahn­hofs­ge­bäude und blieb auf dem klei­nen, mit Pap­peln umstan­de­nen Vor­platz ste­hen. An den reg­lo­sen Fel­dern vor­bei, blickte er die schmale blaue Straße ent­lang. Er war angekommen.
Ent­schlos­sen schob der Junge seine Hände unter die Leder­rie­men des Ruck­sacks und lief los.
Das war Tage her. Jetzt stand der Junge auf einem auf­ge­weich­ten Feld­weg und blickte in die leh­mi­gen Pfüt­zen. Sein Gesicht war ruhig, sein Mund unbe­wegt, seine Augen still.
Die Sonne war schon am Vor­mit­tag ver­schwun­den. Nu regnet›s, sagte sein Onkel und schob mit einem ver­bo­ge­nen Pfei­fen­rei­ni­ger die Erde unter den Fin­ger­nä­geln her­vor. Der Junge suchte sich einen gro­ßen Stock und war­tete auf das Zei­chen sei­nes Onkels. Lang­sam setzte sich die Vieh­herde in Bewe­gung. Den Stock fest in der Hand trieb der Junge die zurück­blei­ben­den Rin­der hin­ter der Herde her. Lang­sam trot­te­ten sie wei­ter. Der Junge balan­cierte den Stock auf einem Fin­ger, bis das Holz kippte und in den Schmutz fiel.
Der Junge gähnte und hob den Stock wie­der auf. Die regen­schwe­ren Äste der Schle­hen streif­ten seine Schul­tern. Der Junge stol­perte in den viel zu gro­ßen Stie­feln hin­ter der Herde her. Stän­dig rutschte er über schmie­rige Steine, patschte durch Pfüt­zen. Die Rin­der rupf­ten das Gras am Weg­rand und glotzten.
Der Junge fror.
Stink­vie­cher ver­dammte, er zog der letz­ten Kuh eins über.
Peng, klatschte es. Sie lief wei­ter, ohne zu reagie­ren. Der Junge folgte. Er zog den Stock wie­der hin­ter sich her. Ganz leicht war es gewe­sen. Den Arm ein wenig geho­ben, den Stock fest in der Hand, dann eine kleine, aber ener­gi­sche Bewe­gung des Hand­ge­lenks. Peng.
Er fühlte kein Mit­leid. Er hatte es eigent­lich nicht gewollt. Und doch war ihm so, als hätte sich etwas ver­än­dert, als sei etwas mit einem nicht fass­ba­ren Ton zersprungen.
Der zweite Schlag kam von allein. Peng. Als sei eine Schleuse geöff­net wor­den, fie­len die näch­sten. Peng. Peng. Er fühlte kei­nen Schmerz. Er schlug zu, als wolle er etwas ver­ja­gen, das weder mit den Rin­dern noch mit dem Wet­ter, noch mit dem Stock zu tun hatte. Wie ein Rasen­der schlug er um sich.
Lang­sam zog die Herde weiter.
Der Junge stand auf dem glit­schi­gen Feld­weg und wagte kei­nen Schritt mehr. Dabei war eigent­lich gar nichts pas­siert. Ein Junge hatte auf einer Kuh her­um­ge­dro­schen, die er weder hasste noch mochte.


Abdruck mit freund­li­cher Geneh­mi­gung des Autors. Alle Rechte beim Autor.
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