Klaus Jäger
Es waren die Kleinigkeiten, an denen er merkte, dass er älter wurde. Als Laurenz Stadler am späten Vormittag aus dem Mietwagen stieg, musste er sich erst ganz vorsichtig strecken. Das Kreuz schmerzte und die Knie wollten auch nicht mehr so richtig. Seltsam, dachte er, wenn er mit Carlotta Liebe machte, tat ihm nichts weh. Er musste schmunzeln. Das nächste Mal, so nahm er sich vor, würde er sich das Auto eine Nummer größer aussuchen, dann wäre es hoffentlich auch eine Nummer bequemer.
Zunächst stoppte er am Friedhof. Das Grab seiner Mutter war schlicht, aber angemessen. Den Schmerz im Rücken ignorierend, fegte er mit der Hand ein paar welke Blätter von der Grabplatte und legte drei weiße Rosen darauf. Zwischen die Kieselsteine rings um den Grabstein legte er eine seiner Glasmurmeln.
Dann fuhr er zum Dorfplatz. Er parkte ein wenig unterhalb seines Vaterhauses. Dort, wo früher einer der drei Brunnen stand, hatte die Gemeinde ein paar kleine Parkplätze eingerichtet, ordentlich mit einer nur kniehohen Buchsbaumhecke eingefasst. Gegenüber stand das Pfarrhaus; nicht nur in seiner Jugend, sondern bis heute einer der wenigen mehrstöckigen Bauten im Dorf. Es wirkte wichtig und behäbig mit seinen gekalkten Wänden und seinen altrosa eingefassten Fenstern.
Von der einen Stube aus konnte man das Pfarrhaus sehen. Mutter hatte sich den alten Ohrensessel, in dem sie immer strickte, so ans Fenster gerückt, dass ihr Blick auf das Pfarrhaus fiel, wenn sie den Kopf hob. Wollte sie hingegen einen Film sehen – der Fernseher bei Stadlers zu Hause war grundsätzlich kleiner als die all ihrer Nachbarn – musste sie den Kopf leicht nach links drehen. Nur ein wenig, so war es richtig, denn im Alter ließ Mutters Gehör nach, und das linke Ohr war stets „das gute“, so dass sie halb die Ohrmuschel und halb die Augen auf den Fernseher richtete.
In Gedanken nannte er das Haus immer sein Vaterhaus. Eigentlich ein irreführender Ausdruck, sein Vater hatte ja nie in diesem Haus gewohnt. Aber das war nur ein weiteres Indiz dafür, dass er sich selbst jahrelang belogen hatte. In seinem Sprachschatz war das Mutterhaus nicht vorgesehen. Im wahrsten Sinne des Wortes gab es für Laurenz weder ein Vaterhaus noch ein Vaterland, das war ihm schon klar. Doch als Kind hinterfragt man solche Begriffe nicht, sie waren einfach da und sie brannten sich ein. Vielleicht wäre es in der Stadt einfacher gewesen, aber auf dem Land, dort, wo noch heute ein strenges Patriarchat herrschte, gab es weder Mutterhäuser noch Mutterboden. Der Satz „Der Vater hat’s gesagt“ galt als letzte Instanz, oft noch bedeutsamer als Gottes Wort, denn die Strafe Gottes, die gab es erst am Tag des Jüngsten Gerichts, der Riemen des Vaters indes hing stets griffbereit in der Kammer. Freilich nicht für ihn, Laurenz. Seine Mutter schlug mit dem Riemen zu. Und sie schien mit Eifer wettmachen zu wollen, was ihr an Kraft fehlte.
Die Muttersprache, die blieb als Wort erhalten, wenngleich sie in der Schule durchaus vernachlässigt wurde. Die Grundrechenarten waren wichtig, Lesen sollte man auch ordentlich können. Auf Ausdruck und auf Rechtschreibung legte man indes weniger Wert. Wie auch, wenn das gesprochene Wort der Lebenswirklichkeit vom gedruckten Wort so weit entfernt war. Was Dialekte sind, lernte Laurenz erst viel später beim Studium.
Wenn man das Haus mit den Augen eines Fremden betrachtete, so überlegte Laurenz, ist es eine rechte Kate. Streckte er den Arm nach oben aus, so konnte er mühelos die Dachrinne berühren. Von der schlichten Holztür blätterte die Farbe ab, das Schloss, früher ein einfaches Kastenschloss, aus dem ein Hebel als Türdrücker ragte, hatte Mutter erst fünf Jahre vor ihrem Tod und nur auf sein Drängen hin gegen ein modernes tauschen lassen. Die Räume waren nicht nur niedrig, sondern auch klein, die Einrichtung stets bescheiden.
Das Haus, so hatte Laurenz erst viel später erfahren, war im 19. Jahrhundert tatsächlich als Armenhaus der Gemeinde errichtet worden. Im Erdgeschoss befanden sich zwei Zimmer, von denen die Mutter eins als „gute Stube“ und eins als Wohnzimmer nutzte. Eine Küche führte nach hinten zum Hof hinaus, wo sich auch das Plumpsklosett befand, von der Mutter immer Abtritt genannt oder Abort. Zudem fand sich neben der Küche noch Platz für eine kleine Speisekammer. Das Dach war hoch und spitz, so konnte man noch zwei Zimmerchen mit schrägen Wänden einrichten. Im kleineren Zimmer auf der rechten Seite schlief die Mutter, das größere auf der linken Seite der schmalen und steilen Treppe war Laurenz‘ Reich.
Es hatte sogar ein kleines Fenster auf der Giebelseite, an dem Laurenz oft reglos saß und darauf wartete, dass ein Auto die scharfe Kurve an der Kreuzung oberhalb des Hauses nicht bekam, oder mit dem Gegenverkehr zusammenstieß, was jedoch nie passierte. Manchmal visierte er von dort aus nachts mit einem Holzgewehr die Autofahrer an, wohl wissend, dass man so etwas nicht dürfe. Irgendwann hatte ihn die Mutter dabei überrascht und ihm eine gehörige Tracht Prügel verpasst. Das Gewehr landete im Küchenofen.
Laurenz zitterte ein bisschen, als er den Schlüssel aus der Jackentasche nahm und aufschloss. Er schob es auf die anstrengende Fahrt. Im Haus roch es ein wenig muffig – und noch immer nach der Mutter. Vermutlich eine Sinnestäuschung, dachte sich Laurenz. Er knipste das Licht in dem winzigen und fensterlosen Flur an. Auf dem kleinen Schränkchen lag fein säuberlich die Post. Ein Werk von Renate Hausdörfer, die noch immer einmal am Tag nach dem Rechten sah. Laurenz ging in die Küche und öffnete die Hintertür. Dann lüftete er die Zimmer im Erdgeschoss.
In der guten Stube stand das Klavier. Es war ein Konzertpiano von Ibach. Nichts Besonderes eigentlich. Allerdings war es eine Sensation, als die Mutter das gebrauchte Instrument gekauft hatte. Schon Wochen vorher beherrschte das Pianoforte die Gespräche in dem kleinen Häuschen. Mutter nannte das Klavier stets das Pianoforte, obwohl es, wie Laurenz später lernte, eigentlich „nur“ ein Pianino war. Ein Klavier eben. Nicht nur Wochen davor, auch Monate danach strich ihm Mutter täglich aufs Butterbrot, dass sie sich das Geld für das Pianoforte vom Munde absparen musste. Dabei fuhr sie sich mit der Handfläche über denselben, als gälte es, Brotkrumen abzuwischen. Es war sehr wichtig, dass sie das immer wieder betonte. Nicht nur für die Mutter selbst, die es dem stets undankbaren Kind auf diese Weise am besten verdeutlichen konnte. Auch für Laurenz wurde es wichtig, obwohl es ihm gar nicht so bewusst war. Erst viel später, als er schon sein eigenes Geld verdiente und ab und an mit der Mutter offen über Geld reden konnte, wurde ihm klar, was für Opfer sie dafür tatsächlich gebracht haben musste.
Doch zur lokalen Sensation wurde der Klavierkauf aus einem ganz anderen Grund: Es war erst das zweite Klavier überhaupt im Dorf, das erste befand sich standesgemäß im Pfarrhaus. Und so wurde seine Ankunft gebührend zur Kenntnis genommen, wobei einige der älteren und besonders strenggläubigen Frauen im Aufstellen eines Klaviers außerhalb des Pfarrhauses schon den Anfang der Blasphemie sahen. Zusätzliches Aufsehen erregten die näheren Umstände des Aufstellens. Über Stunden stand die Haustüre offen, die Möbelpacker liefen ratlos hin und her, nachdem sie sich gegenseitig angeschrien hatten. Der Flur war einfach zu schmal, um das große Instrument durch die schmale Tür in die gute Stube zu bugsieren. Am Ende musste man das extraschwere Möbelstück erst an einer Ecke anheben und dann vorsichtig in die Stube hineindrehen. Die Anstrengung lohnte sich, das Klavier bekam einen würdevollen Platz und die Dörfler staunten andächtig. Von da an, so hatte Laurenz es empfunden, wurde die Mutter eine kleine Spur respektvoller im Dorf gegrüßt. Nicht, dass sie darauf Wert gelegt hätte, das ganz bestimmt nicht, dazu war sie viel zu hochmütig, die Mutter. Sie hätte das Klavier auch niemandem von den Nachbarn hergezeigt, nicht einmal, wenn sie darum gebeten worden wäre.
aus: Carlotta oder Die Lösung aller Probleme, Verlag Tasten & Typen, Bad Tabarz 2020.
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