M.Kruppe
Manchmal schaute ich, bevor ich in die Runde Ecke ging, bei Steve‘s rein, einem Tante-Emma-Laden in der Stadt, der ab fünf Uhr nachmittags einer traditionellen Stehpinte glich.
Nicht nur weil ich, seitdem es den Laden gab, die Wiederbelebung dieses einstigen Kulturguts „Trinkerkiosk“ genoss, sondern auch, weil du hier Dinge erlebtest, die du dir nicht ausdenken kannst. „Wir gehen zu Steve’s“, hieß es, wenn man das Feierabendbier meinte, auch, wenn die Meisten hier das „Feierabendbier“ als obligatorisches Ritual in die Langzeitarbeitslosigkeit oder die Frührente mitgenommen hatten.
Es gab so eine Art Stammrunde, eine Clique von Säufern, die sich seit einigen Wochen regelmäßig hier traf. Irgendwas an ihnen mochte ich. Ob es die Einfachheit der Leute war oder die Ehrlichkeit oder schlicht der Unterhaltungsfaktor konnte ich nicht bestimmen und wollte das auch nicht.
Es war kurz vor Weihnachten, als ich mal wieder reinschaute. Die Runde war fast vollzählig. Da gab es Bernd, den rüstigen Rentner, der nach dem sechsten oder siebten Bier seine Blase nicht mehr unter Kontrolle hatte, wenn er längst schlafend auf dem Schemel neben der Eingangstür saß. Alle rümpften irgendwann die Nase. Aber wecken wollte ihn auch niemand, denn Bernd war stadtbekannt. Der ehemalige Boxer war schnell auf die Palme zu bringen, vor allem, wenn man ihn weckte. Und er hatte trotz seiner 74 Jahre noch ordentlich Bumms auf der Pfanne. Der Einzige, dem nie etwas passierte, war Steve selbst. Bernd schien auch im schlimmsten Dämmerzustand ein Motto nicht zu vergessen: „Beiße niemals die Hand, die dich füttert!“
Und so weckte Steve ihn regelmäßig, wenn es zu schlimm wurde und der Gestank den gesamten Laden einhüllte. Denn die „normalen“ Kunden hatten sich in letzter Zeit des Öfteren beschwert über den Gestank und darüber, dass „Solche“ überhaupt im Laden „geduldet“ wurden. Ansonsten war Steve aber rigoros und weniger kapitalistisch als es vielleicht nötig gewesen wäre, um einen solch kleinen Laden zu halten. „Wenn es ihnen nicht passt, müssen sie ihre Zeitung oder ihre Zigaretten eben woanders kaufen.“, pflegte er zu sagen, wenn sich mal wieder jemand über die „Assis“ aufregte. „Solange ich hier der Chef bin und wir 1933 noch nicht zurückhaben, wird sich nichts daran ändern, dass ich auch diese Leute bediene.“ Das saß meist und forderte einigen Nörglern Respekt ab, zumindest dachten sie nach und kamen am nächsten Tag wieder.
Ein anderer Stammgast war Peter, der schon lange nicht mehr arbeiten konnte, weil er sich nach jahrelanger Plackerei auf dem Bau den Rücken kaputt geschuftet hatte und nun Frührentner war. Immer wenn es irgendwo etwas abzustauben gab, war Peter an vorderster Front. Er war auch Stammgast beim kurdischen Imbiss, in dem wir uns früher immer trafen. Auf dem Weg zur Toilette, die eigentlich ausschließlich dem Personal vorbehalten war, aber auch von den Stammgästen genutzt wurde, stibitze er stets die Fleischreste von den Tellern. Nicht selten kam er kauend vom Klo zurück und einmal sagte irgendwer: „Na … haste ma wieder gepetert?“ Seither heißt das geduldete Entwenden von Essensrestern eben „petern“.
Auch Jürgen stand schon mit dem ersten Bier in der Hand an der Ladentheke. Jürgen, der trotz seiner geistigen Schwäche (oder gerade wegen ihr?) ein cooler Typ war. Immer ein bisschen gereizt, aber niemals körperlich aggressiv, der sich immer künstlich hochfuhr und laut wurde, aber dabei auch über sich selbst lachen musste, denn von dem 1,50m großen Spargeltarzan ging nie eine Gefahr aus. Jürgen: der mit der Hasenscharte, der immer abschätzig lachte, wenn man politisch korrekt „Gaumen- Kiefer-Lippenspalte“ sagte und der sich dann darüber aufregte, dass man das Kind doch beim Namen nennen solle, der höchstens Mitte dreißig, aber „zu dumm zum arbeiten“ war, wie er selbst immer betonte, weil er “Abschluss fünfte Klasse“ hatte und deshalb in den Werkstätten für Benachteiligte schaffte.
Zu dieser Clique gehörte auch Lea, die im Vergleich zu den Anderen eine Ausnahme darstellte, denn Lea war noch sehr jung mit ihren 20 Jahren. Und sie trank keinen Alkohol. Ich frage mich noch heute, was sie an Leuten wie uns fand, weswegen sie immer wieder hierher kam und sich von alten, versoffenen, geilen Böcken anmachen ließ – je betrunkener, desto penetranter. Vielleicht lag das an ihrem Knacks, den sie zweifelsohne hatte, auch, wenn es meines Wissens nach keine Diagnose gab. Aber wo ADHS schon schlimm war, hatte sie wohl etwas, das ADHS PLUS 1000 hätte heißen müssen. Gerade mit ihrer Lehre zur Bäckerin fertig geworden, war auch sie Stammgast im Steve‘s.
Als ich damals reinkam und mir direkt ein Bier aus dem Kühlschrank nahm, fragte Bernd: „Wer hat den Boxkampf am Sonnabend gesehen?“
„Nur die erste Runde.“, sagte Peter. „Das war mir zu spät. Die guten Sachen kommen halt immer erst mitten in der Nacht, wo normale Menschen schlafen.“
„Boxen is nich so meins.“ sagte ich und Lea pflichtete mir bei.
„Ach, ihr wisst doch nich, was gut is.“, sagte Bernd. „Das war die absolute Messe, war das. Der Deutsche hat den so dermaßen platt gemacht, den Schweden, die alte Großfresse.“
Beim letzten Wiegen musste der zwei Köpfe größere Schwede dem Deutschen, wie auch immer die Beiden hießen, einen Headbut gegeben und ihn mit den Worten „Ich zerstampf dich!“ angekeift haben.
„Und der Deutsche,“ fuhr Bernd fort, „hat nur gesagt, dass er freilich verlieren kann, aber sich nich K.O. schlagen lässt.“
Jetzt verlor Bernd völlig die Beherrschung vor Euphorie, die von ihm Besitz ergriff wie der Suff, nachdem er sein Bier exte und weitersprach: „Und dann hat der Deutsche den Schweden zermatscht. ZERMATSCHT, versteht ihr! Der kam nich ma zur Siegerehrung, weil die Ärzte mit dem Halunken beschäftigt waren. So eine Show … bumm, bämm, batsch…“
Bernd ahmte die Schläge nach, nahm die Fäuste deckend vors Gesicht, schlug Haken und Punches und bewies allein durch sein Schattenboxen, dass man sich besser nicht mit ihm anlegte.
„Das war die absolute Messe. Ich versteh nich, wie man sowas nich geil finden kann!“
Mir fiel auf, dass es immer etwas ekelig war, wenn alte, fette Säufer das Wort „geil“ in den Mund nahmen. Das hatte etwas Abstoßendes. Der Klang dieses Wortes aus solch einem Mund implizierte mir zwangsläufig das Bild, wie sich ein aufgegeilter alter Sack über eine junge Frau hermachte. Ich wand mich kurz angewidert ab und griff in den Kühlschrank, um mir ein neues Bier zu angeln.
„Neulich hamse ne Kuh überfahren im Oberland.“, sagte Peter plötzlich aus der Kalten, um das peinliche Schweigen zu brechen.
„Ja.“ sagte Bernd, der auf dem Höhepunkt seines Suffs war. Nicht mehr lange und es würde bergab gehen. Dann würde er wie immer auf seinem Schemel sitzen und sich einpissen.
„Ja.“, wiederholte er, „Die war 80 und hieß Liesl Schmidt. Mit der hatte ich‘s vor 20 Jahren mal.“
Der halbe Laden lag flach und auch Lea lachte und Peter, durch die lockere Stimmung animiert, ging zu ihr und sagte: „Ich bin der Weihnachtsmann. Und weißt du, was ich in meinem Sack habe?“
„Klar.“, schmunzelte sie und ich dachte „Oh Mann, jetzt kommt wieder die Nummer … der alte aufgegeilte Typ macht sich an die junge Nudel ran, die muss ihn abwehren und irgendwann gehe ich dazwischen, weil er mal wieder nicht begreift, dass ihr Lächeln Verlegenheit ist und kein Zeichen, dass sie es auch will.“
Aber sie war straight und sagte: „Alte tote Rentnerspermien.“
Nun war ich es, der laut auflachte und mit mir alle Anwesenden außer Peter. Der brabbelte irgendetwas unverständliches, während er zum Kühlschrank ging, um sich ein neues Bier zu genehmigen.
Mit dieser Schlagfertigkeit hatte ich nicht gerechnet. So kannte ich Lea gar nicht. Und eigentlich wollte ich auch nur ein Bier trinken. Nun aber war ich schon beim dritten und feierte Lea, die sich wie immer gern feiern ließ.
aus: Geschichten vom Kaff der guten Hoffnung, Edition Outbird, Gera 2020.
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