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Audienz am Dienstag

Jens-Fiete Dwars

 

Diens­tag war es. Sonn­tag Mor­gen, im Halb­schlaf, stand die Geschichte mir vor Augen, die ganze Geschichte glas­klar, von Anfang bis Ende. Am Mon­tag ergab ein Wort das andere, doch am Diens­tag kamen die Zwei­fel wie­der, kein Vor­wärts, kein Zurück gab es mehr. Ich floh hin­aus, stieg auf den Berg, den Hügel hin­term Haus, wollte die Lösung erlau­fen, die Locke­rung der Gedan­ken im Gehen erzwin­gen, und wusste, es war dumm, töricht wie der Kin­der­glaube an den Wind, der die schlech­ten Gedan­ken von der Stirn fegt. So blieb mir nur die Hoff­nung, einen Ort auf­zu­su­chen, der dem Schau­platz der Geschichte glei­chen würde, ihre Figu­ren nach dem leben­den Modell zu zeichnen.
Schon im Durch­schrei­ten des klei­nen Kor­ri­dors zwi­schen der äuße­ren und der inne­ren Tür begann etwas in mir auf­zu­le­ben. Der betö­rende Duft von frisch gemah­le­nem Kaf­fee, ver­mengt mit einem Hauch Scho­ko­lade und den Aro­ma­nu­an­cen fein par­fü­mier­ter Tee­blät­ter umfing mich. Die Pforte zu einer Oase, dachte ich, inmit­ten des Stadt­ge­wüh­les. Ein Para­dies, das allen Sin­nen schmei­chelt, auch wenn es, nüch­tern betrach­tet, nur dazu diente, die Leute um ihr Geld zu erleich­tern. Hin­ter der Scheibe saßen sie an ihren run­den Tischen, ver­tieft in Gesprä­che, die ein laut­lo­ses Gri­mas­sie­ren waren, ein Öff­nen und Schlie­ßen zucken­der Mün­der, ein Heben und Sen­ken von Tas­sen und Bechern, und manch­mal auch ein bered­tes Schwei­gen. Es hätte mir voll-kom­men genügt, hier ste­hen zu blei­ben, den stum­men Gesich­tern zu lau­schen. Doch in mei­nem Rücken mel­de­ten sich drän­gelnde Stim­men. Warum es nicht wei­ter gehe, hörte ich, wäh­rend eine Hand mich unsanft durch die zweite Tür hin­durch schob oder stieß, mit­ten hin­ein in die­ses Schlur­fen und Schnar­ren, ein Plär­ren und Plar­ren, Äch­zen und Kräch­zen von scha­ben­den Schu­hen, die­ses Meer unent­wegt mur­meln­der Stim­men, deren auf- und abwo­gen­den Rhyth­men vom Klir­ren der Glä­ser unter­malt waren, vom Schep­pern des Geschirrs, dem Krat­zen stump­fer Bestecke an Tel­lern und Tas­sen, die das Lecken und Schlecken, das Schnal­zen und Bal­zen ringsum übertönten.
Wie betäubt stob ich durch den Tun­nel der Geräu­sche, die Augen unbe­irrt auf den Boden gehef­tet, gera­de­wegs auf die Treppe zu, über das federnde Par­kett, das sich unter mei­nen Schrit­ten bog wie die bemoo­sten Wege im Wald eine Stunde davor. Elf Stu­fen zählte ich, bis noch ein­mal elf Stu­fen in umge­kehr­ter Rich­tung hin­auf führ­ten zum Zwi­schen­deck, zur Empore, wo nur wenige Paare saßen. Lin­ker­hand hob jemand den Arm und schien mir zu win­ken. Ich kannte ihn nicht und sah erst im Näher­tre­ten seine auf­ge­regt rol­len­den Kuge­lau­gen und den auf­dring­li­chen Kuss­mund, der mir ent­ge­gen griente. Zum Umkeh­ren war es zu spät, gewiss hätte er mir nach­ge­ru­fen, sein Lär­men hätte die Blicke aller Umsit­zen­den auf uns gezo­gen und ich wäre vor Pein im Boden ver­sun­ken. So nahm ich an sei­nem Tisch Platz, obwohl ich schrei­ben wollte und sehen musste, dass der junge Mann mich unwei­ger­lich in ein Gespräch ver­wickeln würde, dem ich mich nun nicht mehr zu ent­zie­hen vermochte.
Da wies er auch schon auf sei­nen Kakao, in dem er ohne Unter­lass mit einem Löf­fel rührte, immer gleich­mä­ßig, Runde um Runde einen Stru­del erzeu­gend, in den er selig blickte wie ein Kind von einer hohen Brücke in das sich kräu­selnde Was­ser eines Flus­ses. Ich nickte ihm zu und setzte mich ans andere Ende des Tisches, wäh­rend er mit gluck­sen­dem Lachen in sei­nen Stru­del sah und mich fragte, ob ich das auch könne. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich ver­ges­sen hatte, unten am Tre­sen eine Bestel­lung aufzu-geben. Vor einem statt­li­chen Wand­schrank aus tief­braun gebeiz­tem Holz mit unzäh­li­gen Fächern vol­ler Kaf­fee, Kakao und Tee­sor­ten aus aller Welt nahm die Bedie­nung die Wün­sche der Gäste ent­ge­gen. Noch ein­mal auf­ste­hen und hin­un­ter gehen wollte ich nicht, spä­ter viel­leicht, wenn der ent­schei­dende Satz gefun­den wäre, die Naht­stelle, die den Faden wie­der auf­neh­men ließe, der so jäh geris­sen war. Obwohl er zum Ritual des Ortes gehörte, der Becher mit dem damp­fen­den Gebräu, hier, in einem Café­haus, wo auch die Wen­dung mei­nes Romans sich ereig­nen sollte, jener Geschichte, die am Mon­tag so ener­gisch vor­an­ge­schrit­ten war und nun weder vor­wärts noch zurück wollte.
Ich sah mein Schei­tern, und wie unsin­nig die Hoff­nung war, der reale Ort könne den Man­gel des beschrie­be­nen erset­zen. Ein jäm­mer­li­ches Ein­ge­ständ­nis mei­nes Bank­rotts, der ver­sie­gen­den Vor­stel­lungs­kraft, die es nicht mehr ver­mochte, aus der eige­nen Phan­ta­sie her­aus eine Land­schaft zu ent­wer­fen, die wirk­li­cher sein müsste als diese lächer­li­che Wirk­lich­keit mit ihrem bil­li­gen Imi­tat eines längst über­leb­ten Kolo-nial­stils. Diese Lar­ven ringsum, die mit gelang­weil­ter Miene ein­an­der die Bana­li­tä­ten ihres All­tags anver­trau­ten. Wel­cher Teu­fel hatte mich gerit­ten, aus­ge­rech­net hier eine Lösung für etwas zu suchen, das nur jen­seits die­ses end­lo­sen Rau­schens zu fin­den war, in einem Zim­mer ohne Fen­ster, in der Stille der Abge­schie­den­heit, wo allein die Spra­che haust, die sich eine Welt aus Wor­ten baut.
Ob ich schrei­ben wolle, hörte ich ihn reden, als ich mei­nen Feder­hal­ter neben das Notiz­buch gelegt hatte, das ich für sol­che Zwecke immer bei mir trug. Willst du schrei­ben, wie­der­holte er seine Frage mit wach­sen­der Neu­gier, mit einer unver­schäm­ten Direkt­heit, die alles auf­hob, was Kunst bedingt: ihre ein­fach­sten Vor­aus­set­zun­gen, die Distanz, die Gründe und Abgründe, in denen wir unsre Wahr­hei­ten vor uns selbst ver­ber­gen, unser Gut und Böse, alles Unge­sagte, das uns umtreibt und nur für Augen­blicke zur Spra­che gelangt, in den Zei­chen und Gesten einer vagen Annä­he­rung an das Unsagbare.
Was schreibst du? Sagte er, und rückte mit sei­nem Stuhl ein Stück näher. Einen Roman, ent­geg­nete ich schroff, abge­hackt, mit beton­ter Unfreund­lich­keit in der Stimme, ohne auf­zu­blicken, so dass jeder andere die fro­stige Kon­ver­sa­tion ein­ge­stellt hätte. Doch mein Gegen­über schien jetzt erst recht Feuer zu fan­gen und mit wei­te­ren Fra­gen in mich ein­drin­gen zu wol­len. Ich glaubte, sein rasch ent­flamm­tes Inter­esse wäre ebenso schnell wie­der zu ersticken, wenn ich ihm die viel­schich­ti­gen Nöte des Schrei­bens in ihrer ver­wir­ren­den Kom­ple­xi­tät vor Augen füh­ren würde. So erzählte ich ihm die Haupt­stränge der Hand­lung, unter­bro­chen von den mar­kan­te­sten Ver­äste-lun­gen, deren Motiv­ge­flecht im Hin­ter­grund jene ent­schei­dende Wen­dung vor­be­rei­ten sollte, an der ich soeben geschei­tert war.
Der junge Mann hatte stumm, doch mit unver­min­der­ter Auf­merk­sam­keit, mei­nen Wor­ten gelauscht. Selbst das Rüh­ren im Kakao ver­gaß er, als er mich von oben bis unten zu mustern schien und mit zwei Wor­ten fragte, worin denn diese Wen­dung bestünde: Wel­che Wen­dung? Eine pein­li­che Frage, denn so rund­her­aus, so nackt und bloß, aus dem Gang der Hand­lung gesprengt erschien mir der Wen­de­punkt des Gan­zen mit einem Mal selbst lächer­lich banal wie der schlechte Plot eines seich­ten Tri­vial-romans. Die Haupt­fi­gur, gestand ich, begegne einer unbe­schreib­ba­ren Gestalt in einem Wie­ner Café. Wem? Gott, sagte ich mit einem Räus­pern. Absurd, nicht wahr, fügte ich hinzu, als wolle ich mich für die dümm­li­che Idee ent­schul­di­gen. Es sei eine absurde Audi­enz, stell­ver­tre­tend für die Mensch­heit dürfe die­ser eine dem Schöp­fer sagen, was seine Geschöpfe von ihm hiel­ten, solle er ihm all die Fra­gen stel­len, die uns schon lange nicht mehr an ihn glau­ben ließen.
Frag, sagte der Mann, der mich mit sei­nen gro­ßen Augen ansah. Nur zu, frag mich. Ich bin Gott. Und sein auf­ge­quol­le­nes Mond­ge­sicht war ein ein­zi­ges Lächeln, das mich so zärt­lich anstrahlte, dass ich nicht wusste, was ich ihm ent­geg­nen sollte, die­sem vom Glück Betro­ge­nen, der mir leid tat und mich wütend machte, weil er meine Zeit stahl. Frag­los wollte er mir hel­fen, in sei­ner unbe­hol­fe­nen Güte spielte er Gott und hielt sich wohl auch für einen Gott. Frag schnell, sagte er, und seine Stimme bekam etwas For­dern­des. Man werde ihn bald fin­den, meine Zeit sei begrenzt, drei Fra­gen hätte ich frei, und keine ein­zige mehr. Obgleich noch immer sein Lächeln auf mir ruhte, schien es zu einer Maske zu erstar­ren, die mich schau­dern machte.
Das Leid, sagte ich, wie kannst du es zulas­sen, all das Leid auf dei­ner Welt? Mit Stau­nen hörte ich meine eigene Stimme, wie selbst­ver­ständ­lich sie ins ver­traute Du fiel. Und nun wusste ich auch, wes­halb das Gespräch im Roman geschei­tert war: Wie sollte die Figur ihn anspre­chen, ihn, den Unnenn­ba­ren, des­sen Namen wir stän­dig im Munde füh­ren, den wir zehn­mal am Tag anru­fen, als sei er unser Nach­bar. Gedan­ken­lose Selbst­ge­sprä­che, von denen nie­mand glaubt, ER würde sie jemals hören, geschweige denn erhören.
Geh, sagte mein Gegen­über, und ein Anflug von Trau­rig­keit schim­merte in sei­nem Blick, das lang­weile ihn. Seit Jahr­hun­der­ten ginge das schon so, die­ses ewige Jam­mern, als sei man nicht sel­ber ein Teil des Lei­des, als gäbe es Freu­den ohne Leid, Lachen ohne den Schmerz, Gut ohne Böse.
Das Böse, sagte ich, ist dein Geschöpf? Du meinst, erwi­derte er, ob es den Teu­fel gibt, Luzi­fer, Satan, den gefal­le­nen Engel, wie ihr das nennt, mei­nen Lieb­ling? So unge­fähr stimme das wohl, alles in allem. Ein jeder stelle es sich halt auf seine Art vor. Jedem, sagte er, erscheine ich auf seine Weise: dem Guten als das Gute, dem Bösen, den Berech­nen­den, den ewig Miss­trau­en­den bin ich das Böse.
Also, warf ich ein, um ihm das Absurde sei­ner Aus­sa­gen bewusst zu machen, exi­stierst du nicht wirk­lich? Obwohl du vor mir sitzt. Willst nur eine Spie­ge­lung sein unse­res, mei­nes Selbst?
Das, sagte er, seien zwei Fra­gen, schon eine zuviel. Aber die Ant­wort wäre immer die glei­che: Trau dei­nem eige­nen Gefühl, nur die Sinne lügen nicht.
Da war es wie­der, das Lächeln sei­ner vol­len Lip­pen, an die er nun den Kakao führte, der längst kalt sein musste, wäh­rend eine Stimme uns unter­brach: Georg, rief eine junge Frau, ein Mäd­chen von der Treppe her, da steckst du ja, wir haben dich über­all gesucht. Ich hoffe, sagte sie zu mir gewandt, er hat sie nicht allzu sehr gestört. Georg sei ein lie­ber Kerl, aber manch­mal laufe er der Gruppe davon, wenn sie zum Markt gin­gen, jeden Diens­tag um zehn.
Nein, sagte ich, wir haben uns ange­regt unter­hal­ten, und wollte ihm zuzwin­kern. Doch er war schon auf­ge­stan­den und hatte die Hand des Mäd­chens ergrif­fen, dem er die Stu­fen hinab folgte, wie ein Kind sei­ner Mut­ter. Zwei­mal elf Stu­fen hin­ein in das Schlur­fen und Schnar­ren, das Plär­ren und Plar­ren, das Äch­zen und Kräch­zen, das sich noch immer mit den Wohl­ge­rü­chen des bro­deln­den Cafés mengte, als sei nichts geschehen.
Ich beugte mich über die Brü­stung der Empore, ihm nach­zu­schauen, und als er im Rücken sei­ner Beglei­te­rin durch die Innen­tür in den glä­ser­nen Kor­ri­dor trat, da war mir, als habe er sich noch ein­mal umge­wandt. Ich sah seine Lip­pen sich öff­nen, als wolle er mir ein letz­tes Wort sagen, bis er lachend entschwand.


Mit freund­li­cher Geneh­mi­gung des Autors.
Alle Rechte beim Autor.
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