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Spiegel

Rita Dorn

 

Spie­gel

Wenn die Mut­ter aus dem Haus und das Kind allein war, ging es oft in das Schlafzimmer
der Eltern. Dort war es immer still und kalt, denn der Raum hatte kei­nen Ofen. Es gab dort
eine Kom­mode mit einem gro­ßen, drei­ge­teil­ten Spie­gel dar­auf. Der Kom­mo­den­tisch war
mit einer Glas­platte abge­deckt, dar­un­ter lagen gehä­kelte Spit­zen­deck­chen zum Schmuck.
Auf dem Tisch, nahe der Wand, stand der Spie­gel und wenn das Kind auf die Glasplatte
klet­terte und auf den Knien ganz nah an die mitt­lere Wand heran rückte, gelangte es ins
Wun­der­land. Dazu zog es die bei­den seit­li­chen beweg­li­chen Wände links und rechts ganz
nah an sich heran und schon wei­tete sich der Raum und wurde rie­sen­groß. Und es war
nicht mehr allein. Links und rechts neben ihm hock­ten ganz viele Kin­der. Natür­lich wusste
das Kind, dass es Spie­gel­bil­der von ihm selbst waren. Den­noch sprach es mit ihnen und
beob­ach­tete, wie die vie­len Mün­der sich beweg­ten. Wenn es lachte, lach­ten die
Spie­gel­kin­der zurück. Und manch­mal schnitt es Gri­mas­sen und erschrak, denn das taten
die Spie­gel­kin­der dann auch.
Das Kind konnte sich nicht satt sehen an den schier unend­lich vie­len Köp­fen links und rechts
neben sich. Alle in einer Reihe. Als stün­den sie in einem gro­ßen präch­ti­gen Ball­saal und
war­te­ten auf die Ankunft der Königin.

Wenn im Kor­ri­dor die Woh­nungs­tür ins Schloss fiel, schrak das Kind hoch, klappte die
Spie­gel­wände eilig zurück und klet­terte von der Kommode.
Wie­der allein, stand es im Schlaf­zim­mer der Eltern und hörte die Mut­ter rufen.
Die Köni­gin hatte es auch dies­mal nicht gesehen.


aus: Rüpel­chen. Mosaik einer Kind­heit. Die Rechte lie­gen bei der Autorin. @Rita Dorn 2025. Mit freund­li­cher Geneh­mi­gung der Autorin.

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