Rita Dorn
Das Etui
Glattes, weiches Leder, hellbraun, eine Lasche zum Verschließen. Mit den Fingerspitzen
streiche ich über das schlichte Etui, nehme es in die Hand. Schwer und kühl fühlt es sich an.
Mein Herz klopft schneller, eigentlich soll ich es nicht anfassen. Was auf dem Tisch dort liegt,
braucht Papa alles für die Schule, das ist nicht zum Spielen da, höre ich Muttis Stimme. Und
überhaupt: Du sollst dich doch nicht immer in Papas Arbeitszimmer schleichen, wenn er nicht
da ist, komm da mal raus.
Das Etui hatte auf dem Schreibtisch seinen festen Platz. Es lag immer links neben der
Schreibmappe und war stets sorgsam verschlossen. Aber ich wusste genau, was darin war:
vier metallene Buntstifte mit Fallminen, die man mit kleinen, oben angeschraubten Spindeln
spitzen konnte. Und das tat mein Vater jeden Abend. Ich liebte es, ihm dabei zuzusehen. Er
legte ein Blatt Papier unter, zog die Lasche heraus und nahm bedächtig einen Stift nach dem
anderen aus dem Etui, hielt ihn senkrecht über das Blatt und drückte behutsam auf das
Schräubchen, woraufhin ein Stück der farbigen Mine herauskam. Er prüfte die Spitze, indem
er sie gegen das Licht seiner Schreibtischlampe hielt, schraubte die Spindel ab und begann zu
spitzen. Fast geräuschlos rieselten feine farbige Krümel auf das Papier. Wenn er mit der
Spitze zufrieden war, drehte er das Schräubchen wieder ein, ließ mit leichtem Druck darauf
die Mine im Inneren des Stiftes verschwinden und legte ihn zurück in das Etui.
Mein Vater war Mathematiklehrer und mit diesen besonderen Buntstiften zeichnete er viele
Abende lang im Licht seiner Schreibtischlampe präzise geometrische Figuren auf
Arbeitsblätter für seine Schüler. Wenn sie gut gespitzt waren, konnte man mit ihnen
millimetergenau arbeiten.
Einige Jahre später, nach Vaters Tod, gab mir meine Mutter das Etui und meinte, vielleicht
sei das was für meine Kinder, sie malten doch gern. Doch diese Stifte gab ich ihnen nicht zum
Malen. Sorgsam verwahrt liegt das kleine braune Lederetui noch heute, dreißig Jahre später,
in meinem Schrank und manchmal nehme ich einen Stift heraus, drehe das Schräubchen ab,
spitze ein wenig und schaue zu, wie die farbigen Krümel auf das Papier rieseln.
aus: Was ich sehe. Unterwegs zwischen Gestern, Heute und Niemals. Die Rechte liegen bei der Autorin. @Rita Dorn 2025. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin.