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Vor dem Wind sein

Klaus Jäger

 

18. Mai 2020

Als ich friere und auf den Wecker sehe, ist es erst 6 Uhr. Lap­top ins Bett, Handy ins Bett, Buch ins Bett. Chri­stoph Hein. Ich lese 18 Sei­ten von „Horns Ende“, denke an mein Caro­line-Pro­jekt und ver­zweifle. Das schaffe ich nie. Wäh­rend ich mich mühe, hei­ter-iro­nisch zu plau­dern, mei­ßelt Hein sei­nen Horn in Stein.
Früh­stück. Tele­fo­nat mit B.
Werne ist ein hüb­sches Städt­chen. Präch­ti­ges Rat­haus, sehens­werte Fach­werk­häu­ser. Mehr fas­zi­nie­ren mich die Klin­ker­bau­ten, die man hier über­all sieht. Das hat so etwas Behä­bi­ges. Ein Eis­café ist offen, hat aber keine Toi­lette. Die ist wegen Corona auch im Ein­kaufs­zen­trum abge­sperrt, ein Unding. Die Kir­che mit einem schlan­ken, hohen Turm macht von innen nicht viel her; einen klei­nen Buch­händ­ler lasse ich aus, ver­schiebe ich.
Mit­tags­ruhe. Ich wache schweiß­ge­ba­det auf, die Sonne hat das Wohn­mo­bil auf­ge­heizt. Biss­chen lesen ist ein Muss. Dann springe ich aufs Rad.
Unver­se­hens finde ich mich mit­ten auf dem Land wie­der. Fern­seh-Idylle. Kleine Fel­der, sta­bile Holz­zäune, viel Pfer­de­zucht, viel Grün­land­wirt­schaft, Getreide auch. Die Fahrt ist nach mei­nem Geschmack. Und so flach, wie man sagt, ist NRW gar nicht. Feld- und Wald­wege for­dern ihren Tri­but. Tempo machen geht gar nicht. Aber ich habe es auch nicht eilig. Paar­mal mel­det sich das schlechte Gewis­sen: Du wirst heute nicht mehr am Roman arbei­ten kön­nen. Ich sage mein Man­tra auf: Viel­leicht schreibe ich noch 20 Romane, viel­leicht kei­nen mehr. Ich finde zu mir, ich fühle mich wohl, ich denke, ich habe etwas aus dem Tag gemacht. Was will ich mehr? Was soll ich mehr?
In Lünen staune ich über die unglaub­lich lange Stadt­durch­fahrt. Spä­ter lese ich im Netz: Von 81 Groß­städ­ten in Deutsch­land liegt mehr als ein Drit­tel in NRW. Hamm, gleich in der Nach­bar­schaft, hat 180.000 Ein­woh­ner, das ist so viel wie Erfurt. Oder Parma. Es gibt Tau­sende von Rad­fah­rern hier. Das hat Aus­wir­kun­gen auf die Infra­struk­tur. In Lünen gibt es eine „Fahr­rad­straße“! Rad­fah­rer haben Vor­fahrt, erlaubt sind sonst nur Anlie­ger und Omni­busse. Das Henne-und-Ei-Prin­zip. Wer Stra­ßen baut, wird Autos ern­ten. Dann geht es über weite Strecken an der Lippe ent­lang ost- und heimwärts.

19. Mai 2020

Aus­ge­schla­fen. Gele­sen. Wie­der Chri­stoph Hein. Wie­der beein­druckt. Er baut um sei­nen Horn ein Geheim­nis auf, das du als Leser unbe­dingt auf­spü­ren willst. Kluge Sätze zu Erin­ne­run­gen. Da muss ich auf­pas­sen, sie nicht ver­se­hent­lich zu kopie­ren. Ich notiere sie mir trotzdem.
Früh­stück. Biss­chen Tage­buch. Ich besu­che die Buch­hand­lung Brock­mann. Wow. Man sollte den Apol­daer Buch­la­den nicht als das Maß für inha­ber­ge­führte Buch­hand­lun­gen neh­men. Bei Brock­mann erstehe ich „Die wun­der­ba­ren Falsch­mün­zer“ von Rolf Voll­mann, einen „Roman-Ver­füh­rer 1800 bis 1930“. Ich staune über Auf­ma­chung und Aus­stat­tung des Buches. Es ist in „Die andere Biblio­thek“ erschie­nen, einem von Hans Magnus Enzens­ber­ger initi­ier­ten Pro­jekt, das seit 1985 monat­lich ein Buch verlegt.
Die Brat­wurst in der Pfanne (Schwie­ger­mut­ter würde sagen: „im Die­s­chel“), Kar­tof­fel­sa­lat dazu, biss­chen Tomate. Dazu noch einen Schuss Grü­nen Veltliner.
Beim bösen A. stol­pere ich über eine Rezen­sion zu „Car­lotta“. Nicht wirk­lich ein Ver­riss, aber eben lei­der auch nur zwei Sterne. Schade. Ach, könnte ich es doch wie Hen­ning Man­kell machen, der grund­sätz­lich nichts über sich las, schon gar keine Buch­kri­ti­ken. Ich beschließe, mich nicht zu ärgern.
Klei­ner Spa­zier­gang am Abend. Ich schwatze mit dem aus Bos­nien stam­men­den Wirt der Hor­ne­mühle, er hat am Abend nur vier Gäste.

20. Mai 2020

Ich brau­che hier nicht so viel Schlaf. Die Reise hat mei­nen Stress­le­vel weit nach unten gebracht. Es tut mir gut, hier zu sein.
Basis­wis­sen ange­le­sen: Dren­stein­furt ist eine Gemeinde der geschei­ter­ten Groß­pro­jekte. Hier sollte der Teil­chen­be­schleu­ni­ger des CERN gebaut wer­den, ein Groß­flug­ha­fen ent­ste­hen, ein Atom­kraft­werk und eine Auto­mo­bil­renn­strecke gebaut werden.
Mit­tags auf­ge­tau­tes Gulasch von B., Far­falle dazu.
Fahrt nach Bockum. Dort betreibt C. H. eine kleine Buch­hand­lung. Vor der Tür treffe ich mich mit S. Vor­schrifts­mä­ßig mas­kiert und unan­ge­kün­digt stür­men wir die Buch­hand­lung. Wir plau­dern ein wenig über das Lesen, die Lite­ra­tur, das Span­nungs­genre und „Car­lotta“.
Wir fah­ren zu S. nach Hause. Ihr Mann M. emp­fängt mich herz­lich, auch A. ist da, die Toch­ter der bei­den. Sie ist Anfang 20 und stu­diert in Mün­ster. A. und ihr Freund sind mit Aus­bruch der Corona-Pan­de­mie aufs Land geflüch­tet und leben jetzt hier, wo die Frei­räume grö­ßer sind als in der Stadt. Wir trin­ken Kaf­fee, spä­ter grillt M., wir essen und schwat­zen, der Abend klingt sehr sehr spät mit Rot­wein aus. S. und ich reden über die Arbeit. S. kann mit ihren Däne­mark-Kri­mis wenig­stens Geld ver­die­nen. Der U.-Verlag wolle die Kri­mis „cozy“, und das lie­fert sie. Ihr Herz indes hängt an den Mün­ster­land-Kri­mis, wo sie Ein­nah­men nur über Lesun­gen gene­riert. Wir ana­ly­sie­ren unsere Ver­zweif­lung über unsere Ein­kom­mens­si­tua­tion, eini­gen uns dar­auf, dass man Werk und Markt tren­nen muss, um die vie­len Unge­rech­tig­kei­ten und weni­gen Gerech­tig­kei­ten in den Bücher­wel­ten zu verstehen.
Neben­bei erfahre ich: Ein paar Hun­dert Meter süd­lich betrei­ben Mit­glie­der der weit­ver­zweig­ten Stauf­fen­berg-Fami­lie ein Gestüt. Und Anette von Dro­ste-Hüls­hoff, die ich schon am Boden­see besucht habe, hat hier gelebt und gewirkt.

21. Mai 2020

Das Früh­stück wird zum Brunch, wir sit­zen bis 12.30 Uhr.
Zurück in mei­ner rol­len­den Schreib­stube ent­scheide ich mich, Annette von Dro­ste-Hüls­hoff auf ihrer Burg zu besu­chen. Schloss und Park beein­drucken. Auch ohne es zu wis­sen, spürt man das Alter, die Würde und Bürde eines sol­chen Fami­li­en­be­sit­zes. Das Adels­ge­schlecht von Dro­ste-Hüls­hoff lässt sich bis 1209 – meine Fresse, das sind 811 Jahre – zurück­ver­fol­gen. Annette von Dro­ste-Hüls­hoff ist wohl die pro­mi­nen­te­ste Ver­tre­te­rin, obwohl die Fami­lie viele Dich­ter und Schrift­stel­ler her­vor­brachte. Die Burg selbst wurde im 11. Jahr­hun­dert erst­mals erwähnt – noch mal meine Fresse!: Das sind 1000 Jahre –, es ist eine Nie­de­rungs­burg aus Sand­stein und Back­stein­zie­geln, sie macht den Ein­druck eines behä­bi­gen Herrensitzes.
Ich suche mir einen Platz für die Nacht und finde einen – ist aber nicht so schön. Der kosten­freie Stell­platz am Schwimm­bad von Sen­den­horst ist sehr klein und kusche­lig, von Hecken umge­ben mit vogel­zer­zwit­scher­ter Luft, aber ich stehe mit der Schnauze nur 12 Meter neben einer Aus­fall­straße. Gegen den Lärm hilft der Sicht­schutz nur wenig.
Mein Ver­such, zu Bs. Geburts­tag Online-Tickets für den Leip­zi­ger Zoo zu ergat­tern, schei­tert. Wegen Corona sind die Tickets nur für einen kon­kre­ten Tag und nur inner­halb eines Zeit­fen­sters gültig.

22. Mai 2020

Zu S. 65. Geburts­tag gra­tu­liere ich ihm per Tele­fon. Er ist fröh­lich, aber ich merke, dass es auch ihn ein wenig bedrückt, nicht „groß“ fei­ern zu können.
Abfahrt.

Mit­ten in den hef­ti­gen Regen zur Abend­brot­zeit eine schlechte Nach­richt per Facebook.
I: Lie­ber Klaus, heute haben wir mit der Biblio­thek in H. tele­fo­niert. Du warst ja dort der Wunsch­kan­di­dat für „Traum­be­ruf: Schrift­stel­ler?“. Frau H. musste das heute lei­der absa­gen. Tut mir leid, aber … 2020 ist das Jahr der aus­ge­fal­len­sten und abge­sag­te­sten Lesun­gen. Liebe Grüße aus der Höhle
Ich: Es ist kompliziert.
I.: Da sagst du was Wahres …
Ich: Dass aus­ge­rech­net mein bestes Buch auf so eine läp­pi­sche Art und Weise zum Rohr­kre­pie­rer wird, tut rich­tig weh. Vier Jahre Arbeit für die Katz‘.
I.: Nein, davon darfst du nicht aus­ge­hen. Im Moment ist es für alle neuen Bücher schwer, aber ein Buch ist kein Weg­werf-Arti­kel. Ich baue dar­auf, dass man auch spä­ter etwas dafür tun kann.
Ich: Nun, der Start ist gründ­lich ver­korkst, da müs­sen wir uns nicht mit Euphe­mis­men trö­sten. Und was das „Nach­ho­len“ betrifft: Zeit lässt sich nicht kom­pri­mie­ren. Die Messe, die heute aus­fällt, wird selbst­ver­ständ­lich nicht nach­ge­holt, alles andere ist Pfei­fen im Walde. Aber ich will keine schlechte Laune ver­brei­ten Wie sagte F. mal so schön? Ist doch nur ein Buch.
I.: Ach, ich mag jetzt nicht mehr trau­rig sein. Punkt.
Ich: Ein Schluss­punkt. Um mal Car­lotta zu zitie­ren: „Wir wol­len fröh­lich sein und uns betrinken!“
Nun, das ist mir nicht ganz gelun­gen, ich werde immer vor­her schon müde.


aus: Vor dem Wind sein, ver­öf­fent­licht in der Online-Antho­lo­gie „Das gestoh­lene Jahr“ des VS Thü­rin­gen 2020.
Alle Rechte beim Autor.

 

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