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Die Sache mit Dornröschen

Bernd Ritter

 

Da wir anneh­men kön­nen, dass jedes Kind die­ses Mär­chen kennt, erspa­ren wir uns Einzelheiten.
Die Ange­le­gen­heit wird ohne­hin erst am Ende spannend.
Nach­dem Hun­derte der tap­fer­sten Prin­zen ihr Leben in der undurch­dring­li­chen Dor­nen­hecke ver­lo­ren hat­ten, öff­nete sich eines Tage der tod­brin­gende Wall von selbst und ein Prinz namens Glücks­pilz konnte mühe­los in den Schloss­hof spazieren.
Ebenso mühe­los erklomm er die hun­dert­stu­fige Treppe, die im Inne­ren des run­den Schloss­turms bis hin­auf zu jener Kam­mer führte, in der unser Held nach den Berich­ten sei­ner Vor­fah­ren die schla­fende Prin­zes­sin ver­mu­ten durfte.
Welch kal­ter Schauer über­mannte ihn, als er statt einer jun­gen milch­häu­ti­gen Schön­heit eine alte mumi­en­ähn­li­che Gestalt entdeckte.
Wem wundert’s, der Traum vom schlum­mern­den Dorn­rös­chen war ja bis zu die­sem Tage hun­dert Jahre alt!
Jeder wusste das, oder bes­ser: hätte es wis­sen müssen.
Sofort wollte der Ent­täuschte Reiß­aus neh­men, froh, die Alte bei sei­nem stür­mi­schen Ein­tritt nicht geweckt zu haben, aber es war nicht sein Tag – oder bes­ser, das Schick­sal hatte Ande­res mit ihm vor: Die Alte schlug – ohne sein Zutun! – die ein­ge­sun­ke­nen Augen auf und wollte sich – als sei sie hun­dert Jahre jün­ger – erwar­tungs­voll auf­rich­ten, sank jedoch kraft­los in die Kis­sen zurück. Die Ver­wir­rung des Prin­zen war unbe­schreib­lich. Nur lang­sam konnte er sein auf­ge­wühl­tes Inne­res ord­nen. Er sollte doch jener Sie­ger sein, der uner­schrocken die Hecke nie­der­trat und das wun­der­schöne Dorn­rös­chen aus dem Schlaf küsste.
Sein Groß­va­ter, der alte König, hatte das der­einst geweis­sagt und sein Vater, der regie­rende Mon­arch, hatte es erst kürz­lich bekräftigt.
Und nun das!
Der Spruch der zwölf­ten Fee hatte sich exakt erfüllt. Dorn­rös­chen sollte nicht tot sein, son­dern hun­dert Jahre schla­fen – und sie hatte hun­dert Jahre geschla­fen – und dann sollte sie wie­der erwa­chen – und sie war wie­der erwacht.
Nicht mehr und nicht weniger.
Davon, dass die Zeit ste­hen bliebe oder dass ein Kuss eine Rolle spie­len würde, war in der Pro­phe­zei­ung der Fee nie die Rede gewesen.

2

Und er, der stolze Prinz, hatte weder zum Gelin­gen des ersten Parts noch zum Gelin­gen des zwei­ten bei­getra­gen. Ja, das war die nüch­terne Wahr­heit: Er hatte nichts bewirkt – und nichts hatte er verhindert.
Einen Augen­blick lang benei­dete er sogar seine Vor­gän­ger, die mit dem Namen der schla­fen­den Schön­heit auf den Lip­pen und mit Frie­den im Her­zen in den Dor­nen ver­blu­te­ten. Diese Seli­gen. Er hin­ge­gen war der Bla­mierte! Alle Welt würde ihn bis zum jüng­sten Tag verspotten.
Das durfte nie­mals geschehen!
Doch wie den Scha­den begren­zen? Er musste gute Miene zum bösen Spiel machen!
Und so geschah es.
Des­halb gab es genau jene aus­ge­lassne Feier, von der die Anna­len berichten.
Die alte Dor­nen­rose wurde zum jun­gen Dorn­rös­chen geschminkt – und den Rest ver­deckte der Brautschleier.
Das Volk sah ohne­hin nur, was es glau­ben wollte – und es wollte nun ein­mal glau­ben, dass ein tap­fe­rer Prinz eine schöne junge Prin­zes­sin wach küsste.
Rund ums Schloss wur­den die Büsten der „gefal­le­nen Prin­zes­sin­nen-Befreier“ auf­ge­stellt, damit die Größe der Hel­den­tat des jun­gen Königs sogar vom aller­letz­ten Unter­ta­nen begrif­fen wer­den konnte.

Die Sache mit Dorn­rös­chen stand also zum Besten.
Möchte man glauben.

Irr­tum.
Irrtum?


Mit freund­li­cher Geneh­mi­gung des Autors. Alle Rechte beim Autor.
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