Diana Hellwig
Der Rauch war aus dem oberen Fenster gekommen. Walser konnte einige orange züngelnde Flammen erkennen. Er lief zum Alarmknopf. Unterwegs zog er einen Schuh aus, um damit die Scheibe zu zerschlagen.
„Die alte Schule mal wieder“, sagte eine Stimme in Walsers Rücken.
Walser zuckte zusammen. „Ich bin mir nicht sicher“, sagte er.
Das hier war die Klinkermauer mit den Unterbrechungen aus Feldsteinen. Walser kannte sie genau. Jeden Tag war er als Schüler hier vorbeigelaufen. Gleich musste das Portal kommen. Walser erinnerte sich an die breiten, leicht durchgetretenen Stufen, deren körnige Oberfläche unter den Schuhsohlen knirschte.
Aber das Portal kam nicht, war unauffindbar, als habe die Mauer es verschluckt. Außerdem schien die Mauer länger zu werden und auch höher. Sie wuchs in alle Richtungen, streckte sich – wie ein Mensch, der sich am Morgen nach dem Aufstehen reckt, bevor der Tag über ihn herfällt und ihn wieder zusammendrückt.
Walser lehnte sich gegen die Steine. Er spürte ihre Wärme. Die Mauer war beinah heiß. War es doch ein Brand, der im Inneren der Wände schwelte? Walser tastete die Oberfläche ab. Es roch nicht nach Rauch. Auch war nichts zu hören außer dem Zirpen der Grillen. Allerdings mischte sich, während Walser dies dachte, doch etwas ein, ganz fein zunächst, hoch und singend. Dann wurde es tiefer und verband sich mit einer Art Grollen. Allmählich, wie ein herankommendes Erdbeben, kroch es in Walsers Füße, in seinen Körper und in die Mauer, an der er noch immer lehnte. Jetzt – bewegte sie sich. Die Steine schoben sich auseinander und Walser fiel. Fiel in etwas hinein, das ihn schluckte. Landete auf einem samtenen, nachgiebigen Boden, der ihn festhielt. Es kam ihm vor, als würde er bald in die Höhe, bald in die Tiefe getragen. Ab und zu stoppte die Bewegung, als denke sie nach, wohin sie ihre Fracht bringen solle.
So unvermittelt wie sie ihn ergriffen hatte, hörte die Bewegung wieder auf. Walser wurde freigelassen, ausgespien in einen stillen, von Nachtbeleuchtung gedimmten Flur. Walser zwang sich zur Ruhe. Wo war er? Im einem Gang oder Flur. Walser versuchte, seine Augen scharf zu stellen. Die Exit-Männchen, die an den Rahmen der Mauervorsprünge leuchteten, streuten grünes Licht auf den wie Sülze aussehenden Terrazzo. Walser lief jetzt barfuß. Seine Füße machten schmatzende Geräusche. Vor einer Tür blieb er stehen. Das Sirren hatte eine betäubende Lautstärke angenommen. Walser blieb stehen. Eine Tür wie alle anderen. Kassettenfächer mit schräg stehenden Messingklinken, die aussahen, als würden sie nicken, als würden sie ihm mit einem Zucken ihres Kinns öffnen. Walser berührte vorsichtig den Griff. Die Tür sprang auf.
Eine in der Schwebe gehaltene Hand. „Ha!“, Walser wollte die Tür zuschlagen, aber er konnte nicht. Etwas hinderte ihn. Nicht das Skelett, das ihm gegenüberstand, und das, wie ihm schien, bereits einen Schritt auf ihn zugekommen war, sondern ein unsichtbarer Widerstand. Der Raum schien aus sich selbst herauszudrängen. Walser sah zwei Lichter auf sich zukommen. Pfeifend klatschte ihm etwas ins Gesicht, streifte sein Haar, torkelte über ihn hinweg und landete mit dumpfem Aufprall auf dem Boden des Flures. Eine riesige graue Taube sah Walser aus rötlichen Augen an.
Walsers Gesicht war fahl geworden. Er hörte ein stimmloses Lachen – es war sein eigenes. Eine Taube, wie lächerlich. Er hustete. Das Tier hatte große Flocken Staub aufgewirbelt. Walser hielt sich am Türrahmen fest. Hinter ihm flatterte die Taube, setzte sich schließlich auf eine Fensterbank und sortierte ihr Gefieder.
Ein eingesperrter Vogel in einem Naturkundesaal. War es das gewesen? Walser strich seine Jacke glatt und fuhr sich übers Haar. Seine Glieder bebten. Die Taube machte ein paar heisere Sprechversuche, die jedoch von dem enervierenden Geräusch, das aus dem Raum drang, verschluckte wurden.
Er suchte den Lichtschalter, und da – es traf ihn blitzartig. Sein Haar knisterte. Er spürte einen reißenden Schmerz auf dem Schädel. Seine Adern glühten. Seine Füße klebten am Boden. In einer unwahrscheinlichen Helligkeit erstrahlte der Raum und offenbarte ein bizarres Tableau. Dem Skelett zu Füßen befand sich ein Gefolge von Tieren. Eichhörnchen. Enten. Ein Pelikan, dessen Schnabel schief stand. Ein mächtiger brauner Raubvogel. Und ganz hinten im Raum an der Wand schimmerten in alkoholischen Lösungen Frösche, Molche und die dunklen Leiber von Schlangen. Doch alles war sonderbar verzerrt. Die Tiere schienen sich aus ihren Gehäusen oder von den Platten, auf denen sie montiert waren, befreien zu wollen. Sie brachen aus ihren Häuten und Pelzen heraus. Schimmel hatte die einen in grünlich-weiße Mumien verwandelt. An anderen fraßen Würmer in dicken Nestern an dem von der Haut oder dem Fell oder Gefieder freigegebenen Fleisch. An den aufgedunsenen Körpern der Enten wimmelte es von Käfern. Das heißt, es wimmelte eigentlich nicht, sondern stand still. Ein Stillleben der Verwesung.
Walser war noch immer nicht imstande, sich zu rühren; seine Arme und Beine schwer wie Blei. Einzig sein Blick wanderte durch den Raum und traf in der dunklen Vitrine an der Wand gegenüber unvermutet sich selbst. Ein Paar Augen, das seltsam abwesend wirkte, geweitet, eines Gedankens, einer Erkenntnis unfähig. Es sah Walsers bleiche und abgemagerte Gestalt sich spiegeln und ihn schon selbst in einer Phiole voll stechend riechender Flüssigkeit schweben. Sah seinen kleingewordenen Mund, eher ein Maul, sich öffnen und einen Schrei versuchen.
Hatte er geschrien? Er wusste es nicht. Hatte ihn jemand gehört? War überhaupt eine Menschenseele da? Er selbst? Er wusste nicht, ob er noch lebte.
Als er zu sich kam, fand Walser sich zusammengekrümmt auf einer Parkbank. Nachtwind kühlte ihm die Stirn. Ein hohes, schwingendes Geräusch zeigte an, dass irgendwo ein Generator lief, sonst war alles still. Walser setzte sich auf und strich sich über die Augen. Er sah an sich hinab und fand sich einigermaßen in Ordnung. Allerdings wusste er nicht, wie er hierhergekommen war und wieso barfuß. In der Hand hielt er einen seiner Schuhe.
Dann erinnerte er sich an den Brand.
Ruckartig stand er auf, fand den Feuermelder, der rot in der Dunkelheit glomm, zielte auf die Scheibe und durchschlug sie mit einer Wucht, die ihn selbst überraschte. Ein Vogel flog auf. Der Signalruf begann sich einzuschwingen. Aus der Anlage drang eine Stimme, die fragte, wo es brenne, wer ausgelöst habe und so weiter. Etwas später hielt ein Wagen. Walser wies mit der Hand in Richtung Schule.
„So, so“, sagte der Mann und schaute auf Walser. „Die alte Schule mal wieder! Hätte ich mir denken können.“ Er zuckte mit den Achseln. „Wissen Sie, wie oft wir hierhergerufen werden? Das Gebäude lädt sich immer wieder auf, und dann brauchen wir Ferrit. Ohne Ferrit geht hier gar nichts mehr.“
Walser drehte sich zu dem Mann um. „Ferrit?“, fragte er.
„Ja, etliche Räume mussten wir so schon behandeln. Man befüllt die Schläuche mit Ferrit und schüttet es über das Feuer. Das kann nicht mehr atmen, und alles liegt wie Blei. Null Sauerstoff, null Feuer.“
„Ferrit“, wiederholte Walser.
„Genau. Das erstickt alles. Hat sich bewährt. Die Schule muss mittlerweile richtig schwer sein. Mich wundert, dass die Statik das mitmacht.“
„Und der Unterricht geht weiter?“, fragte Walser.
„Unterricht?! Das Gebäude steht seit Jahren leer. Weiß der Teufel, wer da immer noch drin rumspukt. Der Eingang ist zugemauert.“
Walser schluckte. Er schaute zu dem Fenster hin, aus dem der Rauch gekommen war. Es war gar nicht weit entfernt. Es war geschlossen. In den Scheiben spiegelte sich das orangerote Licht der Straßenlaternen.
„Bei Feuer sind Fenster und Türen zu schließen“, sagte der Mann. Er schien Walsers Gedanken erraten zu haben. „Das lernen die Kinder ziemlich früh. Sie treten dann an, dann wird durchgezählt.“
„Ja“, sagte Walser.
Der Mann zündete sich eine Zigarette an und blies zufrieden den Rauch aus. „Wir haben die Geschichte hier im Griff“, sagte er. „Machen Sie sich keine Sorgen.“
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