Überspringen zu Hauptinhalt

Victor Hugo – Brief XIV: Der Rhein

Annette Seemann

 

Sankt Goar, den 17. August

Sie wis­sen, ich habe oft gesagt, ich liebe Flüsse. Über Flüsse wer­den sowohl Ideen als auch Waren beför­dert. Alle Phä­no­mene der Schöp­fung haben ihre groß­ar­tige Auf­gabe. Flüsse, rie­si­gen Trom­pe­ten gleich, sin­gen dem Ozean das Lied von der Schön­heit der Erde, der Feld­be­stel­lung, der Pracht der Städte und der Men­schen Ruhm. Ich sagte Ihnen auch das: Vor allen ande­ren Flüs­sen liebe ich den Rhein. … Und immer habe ich starke Gefühle, wenn ich in Kom­mu­ni­ka­tion, fast möchte ich sagen: Kom­mu­nion trete mit gro­ßen Phä­no­me­nen der Natur, die eben­falls große Geschichtsphä­no­mene sind.
Ja, mein Freund, der Rhein ist ein edler Fluß: ari­sto­kra­tisch, repu­bli­ka­nisch, kai­ser­lich, wür­dig, sowohl Frank­reich als auch Deutsch­land anzu­ge­hö­ren. Die gesamte euro­päi­sche Geschichte, in ihren zwei gro­ßen Aspek­ten betrach­tet, liegt in die­sem Fluß der Krie­ger und der Den­ker, in die­ser phan­ta­sti­schen Woge, die Frank­reich zur Tat anregt, in die­sem tief­grün­di­gen Rau­schen, das Deutsch­land träu­men läßt.
Der Rhein ver­eint alles. Der Rhein ist schnell wie die Rhône, breit wie die Loire, ein­ge­dämmt wie die Maas, gewun­den wie die Seine, klar und grün wie die Somme, geschichts­träch­tig wie der Tiber, könig­lich wie die Donau, geheim­nis­voll wie der Nil, gold­be­stickt wie ein Fluß in Ame­rika, von Geschich­ten und Gespen­stern umwo­ben wie ein Fluß im Innern Asiens. …
Als die Mor­gen­röte der neu erwa­chen­den Zivi­li­sa­tion über den Tau­nus­hän­gen erkenn­bar war, blüh­ten an den Rhein­ufern die Legen­den und Geschich­ten auf Damals – für uns in einen Halb­schat­ten getaucht, aus dem hie und da magi­sche Fünk­chen auf­leuch­ten – gab es in die­sen Wäl­dern, in die­sen Fel­sen, die­sen Tälern nur Erschei­nun­gen, Visio­nen, wun­der­bare Begeg­nun­gen, Teu­fels­jag­den, Höl­len­bur­gen, Har­fen­klänge im Unter­holz, melo­di­sche Lie­der, von unsicht­ba­ren Frau­en­stim­men gesun­gen, und das schreck­li­che Geläch­ter myste­riö­ser Wan­de­rer. Die mensch­li­chen Hel­den waren fast genauso phan­ta­stisch wie die über­na­tür­li­chen Wesen: Kuno von Sayn, Sibo von Lorch, Star­ken­schwert, Griso der Heide, Her­zog Attich von Elsaß, Her­zog Thas­silo von Bay­ern, Anthys, Her­zog von Fran­ken und Samo, der Wen­den­kö­nig, irren ver­stört durch die schwin­del­erre­gen­den Hoch­wäl­der, sie suchen wei­nend nach ihren schö­nen, gro­ßen und schlan­ken Prin­zes­sin­nen mit der wei­ßen Haut, die so rei­zende Namen tra­gen wie Gela, Gar­linde, Liba, Wil­lis­winde, Scho­netta. All diese Aben­teu­rer, die halb im Mär­chen­haf­ten ver­sun­ken sind und nur schwach noch mit dem Absatz am wirk­li­chen Leben haf­ten, kom­men und gehen in die­sen Legen­den, ver­lie­ren sich am Abend in den undurch­dring­li­chen Wäl­dern, quä­len sich auf ihren schwe­ren Pfer­den durch Dor­nen und Sta­cheln, gefolgt von ihren mage­ren Wind­hun­den, wie der Rit­ter Tod von Albrecht Dürer, sie wer­den aus den Büschen von Gespen­stern beob­ach­tet, und gele­gent­lich spre­chen sie irgend­ei­nen rußi­gen Köh­ler an, der an einem Feuer sitzt, und das ist dann der Teu­fel, der in ei-nem Kes­sel die See­len der Ver­stor­be­nen auf­ein­an­der­ge­häuft hat. … Zwi­schen die­sen mythi­schen Gestal­ten tau­chen von Zeit zu Zeit sol­che aus Fleisch und Blut auf: vor allem Karl der Große und Roland. Karl der Große in allen Lebens­al­tern, als Kind, jun­ger Mann oder als Greis. Karl der Große, den die Legende bei einem Mül­ler im Schwarz­wald zur Welt kom­men läßt. Roland läßt sie nicht in Ron­ce­val­les unter den Schlä­gen einer gan­zen Armee ster­ben, son­dern aus Liebe, im Klo­ster Non­nen­werth. Spä­ter kom­men Otto, Fried­rich Bar­ba­rossa und Adolf von Nas­sau hinzu. Per­so­nen der Geschichte mit Phan­ta­sie­ge­stal­ten zu ver­bin­den gehört zu einer mensch­li­chen Gewohn­heit, Fak­ten gern in einem Wirr­warr von Träu­men und Ein­bil­dun­gen fest­zu­hal­ten. So kämpft sich die Geschichte durch die Mär­chen erst lang­sam ans Licht, wie eine Ruine, die hier und da unter den Blu­men zum Vor­schein kommt.


aus: Vic­tor Hugo, Der Rhein. Her­aus­ge­ge­ben und über­setzt von Annette See­mann, Insel Ver­lag, Frank­furt am Main 2010. Mit freund­li­cher Geneh­mi­gung der Autorin.
An den Anfang scrollen