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Tiefer Grund

Katrin Lemke

 

Hätte jemand, ein ande­rer Auto­fah­rer zum Bei­spiel, neben der zer­ störte Sei­ten­planke ange­hal­ten und in den Tie­fen Grund hinunter­ gese­hen, gleich nach dem Unfall, viel­leicht wäre das Schlimm­ste ver­hin­dert wor­den .Viel­leicht hätte die Frau überlebt.
Es hat aber kei­ner ange­hal­ten. Eine kaputte Stra­ßen­be­gren­zung sahen sie hier alle Tage. Das war kein Grund, die Fahrt zu unter­ bre­chen. Schon gar nicht auf die­sem High­way mit sei­nen Haarna­delkurven, bei die­ser Hitze, in die­sem Staub. Der Tiefe Grund war gelb­grau davon und trocken. Zum Glück hatte der Wagen dort un­ten nicht Feuer gefan­gen, es hätte einen Rie­sen­brand gege­ben. Er war ‑wie in Zeit­lupe ‑ganz ein­fach aus der Kurve gera­ten, hatte die Planke durch­bro­chen und war in die Tiefe gestürzt. Geflo­gen, ge­sprungen. Denn immer wenn er auf­schlug, machte er ein zusätzli­ches Salto. Dann war er unten lie­gen geblie­ben, ver­kan­tet, zer­beult. Die Front­scheibe hatte sich im Fal­len gelöst, war weg­ge­sprun­gen. Der Motor schwieg.
Die Klappe des Kof­fer­raums steht offen wie ein brei­tes Maul. Nur das Radio dudelt.
Nick guckt nach drau­ßen. Der Schreck sitzt ihm in den Glie­dern. Wo sonst die Scheibe des Autos war, ist jetzt alles offen. Er sieht graue Steine, die rol­len den Hang hin­un­ter, einer schlägt seit­lich gegen die Auto­tür. Dann ist es still. Und dann rollt noch einer hin­terher. Im Gebüsch wei­ter oben hängt eine große Scheibe Glas.
Jetzt beginnt Toby zu wim­mern. Der Kleine ächzt und hört sich an wie immer, wenn er nicht gleich kriegt, was er haben will. Dann brüllt er laut los. Nick ver­sucht sowie immer zu klin­gen, als er sagt:
Hast du Durst, Toby? Willst du was trin­ken? Und dann so laut er kann: Mama, Toby hat Durst.
Nick sitzt auf der Rück­bank, ange­schnallt auf sei­nem Kin­der­sitz, Toby dane­ben in der Baby­schale. Der schreit. Schreit so laut­wie im­mer, nein, noch lau­ter. Nick will das nicht hören. Er presst die Hän­de auf die Ohren, schreit eben­falls. Der Schreck, kopf­über-kop­f­un­­­ter mit dem Auto her­um­zu­pol­tern, steckt ihm in den Kno­chen. Nick brüllt den Klei­nen an: Leise sein! Toby ist aber nicht leise, er schreit wei­ter. Eine ganze Weile. Das ist so wie immer, Toby brüllt und Nick hält sich die Ohren zu. Aber Mama ist ja da. Mama, Toby schreit, komm doch! Nichts. Der Kleine schreit wei­ter. Hast du Hun­ger, Toby? Nick sucht und fin­det einen Keks auf dem Sitz ne­ ben sich, reicht ihn dem Bru­der, der jetzt nur noch schluchzt und zwi­schen Rotz und Trä­nen an dem Keks zu lut­schen beginnt.
Auf Mamas Seite guckt ein Ast von einem Gebüsch zum offe­nen Fen­ster her­ein, der sieht sta­che­lig aus und muss weh tun. Mama? Mama! Nicks Stimme muss nicht so laut wer­den, Mama sitzt ja di­rekt vor ihm, wenn der Gurt vom Kin­der­sitz nicht wäre, könnte er in ihre Haare grei­fen. Die sieht er zwi­schen der Lehne des Autosit­ zes und der Kopf­stütze her­vor­quel­len . Mamas Haare, schwarz und kräu­se­lig. Er fasst gern hin­ein, krallt sich fest darin. Als er noch klein war und noch neben ihr im gro­ßen Bett schlief, konnte er beim Schla­fen­ge­hen erst ruhig wer­den, wenn Mama sich neben ihn legte und seine Hände sich in ihre Haare schlei­chen durf­ten. Haa­re gab­beln, nannte er das damals. Jetzt macht er das nicht mehr, schließ­lich ist er ein gro­ßer Bru­der gewor­den. Schon fünf Jahre alt. Nur manch­mal, wenn er hin­ter ihr saß im Auto und sie aus lau­ter Eile das Anschnal­len ver­ges­sen hatte, dann rutschte er von sei­nem Sitz, stellte sich hin­ter sie und griff durch die Lücke in der Kopf­ stütze hin­durch in ihre Haare. Dann lachte Mama und sagte: Nicht! Nick, das tut doch weh. Bist du gar nicht ange­schnallt? Ach Gott. Setzt dich hin und schnall dich mal sel­ber an.
Nick ist stolz dar­auf, das schon allein zu kön­nen. Jetzt tastet er mit der einen Hand nach dem Rie­gel, er sitzt fest. Der Junge dreht sich herum unter dem Gurt und nimmt die andere Hand zur Hilfe. Der rote Punkt lässt sich rein­drücken, der Ver­schluss geht mit einem Klacken auf. Mama? Nick rutscht nach vorn und greift in ihr Haar, das sich selt­sam stumpf anfühlt Plötz­lich lässt Mama den Kopf nach vorn fal­len, so als sei sie ein­ge­schla­fen. Bei Oma hatte er das schon öfter gese­hen, wenn sie zu Besuch war und nach dem Essen im Ses­sel ein­nickte. Bei Mama noch nie. Nick schiebt eine Hand nach vorn, rüt­telt an Mamas Schul­ter. Nicht schla­fen, ruft er laut, nicht schla­fen. Nach Hause fah­ren, Mama! Es kommt keine Antwort.Im Radio ist die Musik zu Ende, ein Mann spricht jetzt irgend­was. Sei­ne Stimme klingt so ähn­lich wie Papas. Papa, ruft Nick, Papa! Zwi­schen den Vor­der­sit­zen klet­tert er nach vorn, dreht an den Knöp­fen. Das darf er eigent­lich nicht. Da ist Papa aber schon wiederweg.Weg wie fast immer. Eine Frau­en­stimme sagt was von Coca-Cola.
Aber Mama schläft immer noch. Ihr Kopf mit den wir­ren Haa­ren hängt herunter.
Nick kriecht zurück auf die hin­tere Sitz­bank. Da lie­gen Bilderbü­cher, Keks­re­ste, eine Klap­per mit klei­nen Kugeln drin und Nicks Plüsch­hase mit der rot­ge­streif­ten Hose. Die Hose ist am Hasenkör­per ange­näht. Der Hase kann sie gar nicht aus­zie­hen. Die Knöpfe mit den Trä­gern sit­zen direkt in sei­nem Fell fest. Gehen nicht ab. Mama musste die Hose mit­samt dem gan­zen Plüsch­ha­sen wa­schen, als sie bei Nicks Geburts­tag so dreckig gewor­den war. Sie hatte den Hasen an bei­den Ohren mit Wäsche­klam­mern an der Lei­ne fest­ge­zwickt. Und da hatte er dann hin­term Haus hoch in der Luft gebau­melt, dass Nick einen Rie­sen­schreck bekam. Er hatte ge­schrien und geweint, nein, Mama, nicht, das tut dem Hasen doch weh. Ach was, hatte Mama gesagt, wie soll er denn sonst trock­nen? Hät­test halt gestern mit der Scho­ko­lade und der Cola auf­pas­sen müssen.
Jetzt presst Nick den Hasen an sich. Hast du dir weh­ge­tan? Das Auto ist den Berg run­ter­ge­fal­len. Und Mama schläft jetzt und wacht nicht auf. Toby, wo issn deine Fla­sche, hm?
Toby schreit wie­der, seine Spucke bil­det eine Blase vor dem Mund. Er sagt nichts, kann ja nichts sagen, ist noch zu klein dazu. Seine Händ­chen sind pap­pig gewor­den von dem Keks. Er stopft sie in sei­nen Mund hin­ein und schreit wei­ter. Nick rutscht nach unten und sucht die Fla­sche. Die fällt immer run­ter beim Auto­fah­ren. Seine Hände tasten über den krü­me­li­gen, drecki­gen Boden des Autos. Dann hat er sie. Aber die Fla­sche ist fast leer. Nur noch ein paar Schluck Tee sind drin. Hier, Toby, kann­ste trin­ken. Der Kleine saugt gie­rig. Die Fla­sche ist fast sofort leer, er nuckelt noch eine Weile da­ran herum, beißt mit den Zäh­nen in den Gummi, zieht daran. Dann wirft er sie weg und schreit wie­der. Zor­nig, so als bekäme er jetzt eine große Wut. Nick weiß, dass das nicht genug für ihn war, dass er noch mehr haben will. Aber woher soll er denn eine neue Fla­sche mit Tee neh­men? Ist alle, Toby, ist alles alle. Zu Hause bekommst du noch was, wenn Mama auf­ge­wacht ist, ja? Mama! Wach doch mal auf, Toby hat immer noch Durst!
Mama sagt nichts, hält wei­ter den Kopf gesenkt, schläft tief und fest. Hört den brül­len­den Toby gar nicht. Nick muss jetzt auch wei­nen, weil er es nicht mehr aus­hält. Er wischt sich Augen und Nase an sei­nem Hasen ab, dann drückt er ihn gegen sei­nen Hals, damit er das wei­che Fell spürt. Drau­ßen wird es lang­sam dun­kel, aber die Hitze geht nicht weg. Nick hat auch Durst. Mama hatte vor­hin Cola gekauft, aber wo ist die denn? Hier drin im Auto nicht, da sind nur der Hase, Toby, Nick und Mama, die nichts mehr sagt. Die Ein­kaufs­ta­sche schiebt Mama immer hin­ten in den Kof­fer­raum. Nick dreht den Kopf nach hin­ten, die breite Klap­pe­steht offen und hat einen Riss in der Mitte. Ob er die Cola neh­men darf? Papa hat gesagt, Cola ist nichts für Kin­der. Aber wenn nichts ande­res da ist? Er wird es Papa nicht erzäh­len, dass er Cola getrun­ken hat, auch an sei­nem Geburts­tag. Mama ist nicht so streng, die erlaubt sowas. Nick beschließt, nach drau­ßen zu klet­tern. Klet­tern kann er gut, Papa hat ihm in Opas Gar­ten bei­gebracht, auf den alten Baum zu stei­gen, sich dabei rich­tig fest­zu­hal­ten, die klei­nen Buckel  und Vor­sprünge in der Baum­rinde und die Äste zu nut­zen, um höher zu kom­men. Er musste nur ganz fest grei­fen. Wie ein Klet­teraffe, hatte Papa gesagt. Die Fin­ger­kup­pen  tief in der Rinde. Wenn du es geschickt machst, Nick, dann kannst du von ganz oben runter­ gucken. Da siehst du viel mehr als von unten. Stimmt, Nick hatte Opas altes Auto von oben gese­hen, mit den Bei­nen von Opa dar­unter. Und Omas run­der Stroh­hut ging über den Hof, mit den zer­fransten Blu­men drauf. Nick musste lachen, weil der wie ein lee­res Vogel­nest aus­sah. Von oben. Dann war er vor­sich­tig ein Stück­chen zuzück­ge­kra­xelt. Run­ter war schwe­rer als hoch. Aber Papa hatte ein­fach geru­fen: Spring doch, Nick, und die Arme ausgebreitet.
Er wird es schon schaf­fen, aus einem run­ter­ge­fal­le­nen Auto zu stei­gen. Er ist doch schon fünf!

 


aus: Fluss­kie­sel: Geschich­ten von Auf­bruch und Wei­ter­ge­hen, Domi­no­plan, Jena 2020.
Alle Rechte beim Verlag.
Der Abdruck erfolgt mit freund­li­cher Geneh­mi­gung des Ver­lags und der Autorin.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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