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Der Schiffbruch

Katrin Lemke

 

Vor lan­ger Zeit ken­terte an der zer­klüf­te­ten Fjor­dkü­ste vor der Stadt Ber­gen in einem har­ten Herbst­sturm ein Han­dels­schiff, eine alte Han­se­kogge voll Fracht. Sie zer­schellte an den Gra­nit­fel­sen, neigte sich im Sturm zur Seite und sank bald voll­ge­so­gen und stein­schwer in die Tiefe. Waren lösten sich aus ihrer Ver­täu­ung. Fäs­ser, Packen und Bal­len schwam­men im Meer, bis auch sie san­ken. Gebroche­ne Plan­ken und Masten trie­ben wei­ter, sich hin und her wer­fend, hoch und nie­der tan­zend zwi­schen Wel­len­ber­gen und Abgrün­den. Das weiße Gold, das die Kogge gela­den hatte, machte die See nur gering­fü­gig sal­zi­ger. Die geleer­ten Säcke, sinn­lose Schläu­che ohne Funk­tion, hin­gen wie blasse Häute zwi­schen den Wogen. Dann trieb das Meer sie auseinander.
Die weni­gen Rei­sen­den, die an Bord waren ‑ein paar Han­dels­leute aus Rostock und Amster­dam, einige Mön­che in brau­ner Tracht und meh­rere Berg­knap­pen aus dem Erz­ge­birge-hat­ten sich gegen den Rat des Kapi­täns angst­voll unter Deck ver­kro­chen, man­che sogar ver­täut. Sie konn­ten sich nicht mehr nach oben arbei­ten und fan­den den Tod in der Tiefe des Mee­res, das sich im Hand­um­dre­hen den Zugang ins Innere der Kogge erzwang und sie an Ort und Stelle über­nahm. Einer von den Zwickauer Knap­pen, die es in die Pro­vinz Tele­mark zog der Sil­ber- und Kup­fer­vor­kom­men wegen, fand noch Zeit, mit Schrecken wahr­zu­neh­men, wie stark und besitzergrei­fend die schwe­ren Was­ser der nörd­li­chen See das Schiffs­ge­bäude aus Men­schen­hand zer­drück­ten. Er hatte wohl damit gerech­net, in einem Berg­werks­stol­len zu Tode zu kom­men, ver­schüt­tet von nie­ der­pras­seln­dem Gestein, denn wie leicht stürz­ten die mensch­ge­mach­ten Gänge im Inne­ren der Berge zusam­men. Den Tod in auf­ gewühl­ter See aber, wie er jetzt auf ihn zukam, hatte er sich nicht vor­stel­len können.
Der Kapi­tän, ein erfah­re­ner Grau­bär­ti­ger, ver­fluchte  sei­nen Ent­schluss, auf diese herbst­li­che Nord­land­fahrt seine Toch­ter, gerade sieb­zehn­jäh­rig, mit­ge­nom­men zu haben. Noch im Auf und Ab des Unter­ge­hens, mit den Wel­len kämp­fend, brül­lend vor Angst und Wut, hoffte er auf ein Wun­der: sie, wenig­stens sie, sollte diese Hölle aus Was­ser und Wind über­le­ben! Er hatte ihr ver­bo­ten, unter Deck zu gehen, hatte sie im Sturm mit letz­ter Kraft an einen der Masten gebun­den, von denen er ver­mu­tete, sie hiel­ten dem Druck stand.
Wie lange aber trotzt ein Schiff dem Sturm? Wie fest und halt­bar sind Masten und Taue?
Am näch­sten Mor­gen war die See still und grau. Sie lag über dem Unglück wie eine Schicht aus Blei, die nichts von dem, was in der Nacht ver­sun­ken war, wie­der nach oben las­sen würde. Der feine eisige Regen, getrie­ben vom Nord­west­wind, wehte bei­nahe waage­ recht der zer­klüf­te­ten Küste von Liv­soya zu.

Am Leben

An die­ser Küste lagen im lang­sam auf­kom­men­den Mor­gen­licht zwei schmale Gestal­ten, hin­ge­schleu­dert und unna­tür­lich ver­dreht. Beide umklam­mer­ten mit erfro­re­nen Hän­den die­selbe Plan­ke, als woll­ten sie sie auch im Tod nicht los­las­sen. Fischer fan­den sie, erschra­ken und dank­ten schließ­lich Gott für das Wun­der, als sie bemerk­ten, dass in bei­den noch Leben war. Ein Mäd­chen mit blau­ge­schla­ge­ner, blu­ti­ger Stirn. Ein jun­ger Mönch mit einem zer­schlagenen Bein. Eis­kalt und toten­starr. Beim Lösen der Fin­ger bemerk­ten die Fischer, dass der Mönch mit sei­ner Hand zugleich die Planke und die Fin­ger des Mäd­chens umklam­merte. Die bei­den Fischer dreh­ten die schein­bar Toten, sie klopf­ten ihnen rhyth­misch auf die Brust, um den Herz­schlag anzu­trei­ben, schlu­gen und rie­ben ihre Wan­gen, brach­ten ihre Glied­ma­ßen wie­der in die rich­tige Posi­tion. Sie unter­such­ten vor­sich­tig die Kör­per, sag­ten kein Wort, aber nach einer Weile nick­ten sie sich zu.
Im Inne­ren der Schä­ren­halb­in­sel, hin­ter einer ein­ge­schnit­te­nen Bucht, die das Was­ser eines Baches ans Meer wei­ter­gab, befand sich der Boots­schup­pen der Fischer, eine Hütte aus Holz­bal­ken, geduckt unter einem Dach aus unre­gel­mä­ßig gehaue­nen Schiefer­platten, die aus­sa­hen, als roste­ten sie. Die Hütte lag land­ein­wärts, damit das Meer nicht zu nahe kom­men konnte. Neben ihr stan­den Stock­ge­rü­ste, wie offene Spitz­dä­cher, zusam­men­ge­bun­den aus dün­nen, bor­ken­lo­sen Baum­stäm­men. Fischgestelle.
Die bei­den Alten leg­ten den stöh­nen­den Mönch in ihr Boot. Sie zo­gen es wie einen Schlit­ten über Sand und Heide, dann trug einer das Mäd­chen in den Ver­schlag. Aus Flech­ten und Kraut schich­teten sie zwei Lager, ver­ban­den die Stirn­wunde mit den Strei­fen, die sie aus einer Sack­lein­wand ris­sen, und schien­ten mit lan­gen Holz­knüp­peln das gebro­chene Bein. Im Inne­ren der Hütte, in einer Grube unter dem Rauch­loch, mach­ten sie ‑wei­ter wort­los ‑Feuer.
Mit dem Geruch von Fisch und Rauch, mit höher stei­gen­der Sonne und Helle, die das Mäd­chen mit geschlos­se­nen Augen durch die Haut spürte, kam zögernd das Leben zurück und mit ihm die Ge­wissheit des Schiff­bruchs. Ein Ansturm aus Was­ser­bil­dern, schla­genden Geräu­schen und Grauen. Sie kämpfte mit den Armen in der Luft, rang keu­chend nach Atem und riss die Augen auf. Wie ein plötz­li­cher Blitz: Tages­licht. Dann Men­schen­ge­stal­ten, eine nied­rige Tür­öff­nung und dahin­ter braune Heide. Eine dürre Kie­fer darin, eine Birke, zer­zaust und gebeugt. Ein geräusch­lo­ses, selt­sam unwirk­li­ches Bild ohne Schwan­ken und Schleu­dern. Wie von weit­her strömte eine unglaub­li­che Freude heran, die unfass­bare Ge­wissheit, nicht ertrun­ken zu sein, nicht mehr ertrin­ken zu müssen.
Das Ende eines Alp­traums. Vater, bist du da?
In dem Mäd­chen ent­stand das Emp­fin­den, als sei das Meer durch sei­nen Kör­per hin­durch­ge­gan­gen wie Wind durch Segel, wie Zeit durch ein Leben. Sie atmete aus und wie­der ein, wusste jetzt, Luft ist nichts, aber auch gar nichts Selbst­ver­ständ­li­ches. Sie setzte sich müh­sam auf und nahm die Hände zum Gesicht, so als wolle sie erta­sten, wer sie sei. Die Fin­ger zöger­ten bei der Berüh­rung des Stirn­ver­ban­des, kro­chen dar­un­ter. Die Wun­den, die sie berühr­ten, schie­nen dem Mäd­chen klein und unbe­deu­tend, die Fin­ger gin­gen dar­über hin­weg. Krat­zer, die ver­ge­hen wür­den, Nar­ben mit der Zeit. Das Mäd­chen wandte den Kopf. Dem Stöh­nen­den da drü­ben ging es schlechter.
Die Fischer, bevor sie davon­gin­gen, gaben den Geret­te­ten von ihrer Kost ab. Ein paar fra­gend und vor­sich­tig hin­ge­reichte Bis­sen. Sie schmeck­ten dem Mäd­chen wie die letz­ten an Bord, am Abend vor dem Schiffbruch.
Wenn­gleich der Mönch unter Trä­nen stöhnte und beim Rich­ten des Bru­ches in sei­nem Bein laut geschrien hatte, spürte auch er, dass das, was da in ihm tobte und riss, sein Leben war. Er ver­biss sich den brül­len­den Schmerz, ver­suchte ihn zu erdul­den, zu ver­schweigen, dann aber presste die Qual Gebete und schau­er­li­che Gesänge aus ihm her­aus. Zuletzt bat er um ein Stück Holz, das er sich zwi­schen die Zähne schob, die auf­ein­an­der­schlu­gen. So drang sein Äch­zen unge­hin­dert aus sei­ner Kehle in die Ohren des Mäd­chens. Sie bekam es mit der Angst zu tun, wusste nicht, wie sie ihm, der fror und zit­terte, Lin­de­rung ver­schaf­fen könne. Das Feuer schien nutz­los für ihn zu sein, seine Wärme erreichte ihn nicht. Sie wünschte, die Fischer wären geblie­ben. Ihren Gesten hatte sie ent­nommen, dass sie wie­der­kom­men woll­ten, spä­ter. Aber jetzt?
Das Mäd­chen schließ­lich wusste sich nicht anders zu hel­fen, als mit sei­nem Kör­per den Frie­ren­den zu wär­men. Sie legte sich neben ihn, dicht an seine gesunde Seite gepresst, schlang den Arm um sei­nen kal­ten Leib, der mit einem Stück Segel­tuch aus der Hütte bedeckt war, wäh­rend sein brau­nes Gewand auf dem Fisch­ge­rüst drau­ßen im Wind hing. Sie legte ihr Bein an sein gesun­des, so wärmte sie wenig­stens die eine Kör­per­hälfte des Schlot­tern­den. Hilf­los stieß sie einen Sing­sang aus, summte eins nach dem ande­ren die Lie­der, die sie von ihrer Mut­ter kannte. Der Mönch schien zuerst nichts davon zu spü­ren, er stöhn­te­qual­voll, wurde aber doch ruhi­ger und schlief schließ­lich, wär­mer gewor­den, ein. Das Mäd­chen, sich auf­set­zend und Abstand suchend, sah ihn an. Der da auf dem Rücken lag, war ein Gro­ßer, Mage­rer, anschei­nend noch ganz Jun­ger. Seine Hal­tung wurde bestimmt durch die Abwinke lung des gebro­che­nen Bei­nes, das, in die Holz­schie­nen gepresst, wie ein Fremd­kör­per auf sei­ner ande­ren Seite lag. Das Mäd­chen war mit dem lan­gen Lei­nen­hemd beklei­det, das sie sonst unter den Klei­dern trug. Die hin­gen eben­falls im Wind, um zu trock­nen. Jetzt holte sie alle Klei­dungs­stücke von drau­ßen her­ein und deckte den Mönch für die Nacht damit zu.
Sie wusste, dass sie nicht schla­fen würde. Sich zum Feuer set­zend schloss sie die Augen und ließ ihren Gedan­ken freien Lauf. Die Bil­der des Schiff­bruchs und der Ret­tung tauch­ten vor ihren Augen auf:sie sah wie­der die toben­den Wel­len, hörte das Kra­chen des zer­berstenden Schif­fes, sah Kopf und Schul­tern des Mönchs aus dem Was­ser ragen, seine halt­su­chen­den Arme, sie trieb, ganz ohne ihr Zutun auf ihn zu, er klam­merte sich an ihre Planke, dass sie Angst bekam, er könne sie ihr ent­win­den. Sie sah, dass er schrie, hörte es aber nicht im Sturm und fühlte doch Erleich­te­rung über seine Nähe. Lie­ber wollte sie einen Schrei­en­den neben sich haben als gar kei­nen Men­schen. Es hatte sie ‑sekun­den­lang ‑mit Ent­set­zen er­füllt, Unter­gang und Tod allein erle­ben zu müs­sen. Dann hatte sie den Schlag der Welle gespürt, der ihre Stirn auf das Holz schmet­terte. Im Erwa­chen, fiel ihr plötz­lich ein, hatte sie das grau­bär­tige Gesicht eines der Fischer für das ihres Vaters gehal­ten. Jetzt, allein am Feuer, neben sich einen Frem­den, wusste sie plötz­lich, dass sie ihn nicht wie­der­se­hen würde. Eine Erkennt­nis, die ihr den Atem nahm, ihr wie ein ste­chen­der Schmerz durch den Kör­per fuhr.
Das Mäd­chen zog die Knie an den Leib und legte die Arme darum. Ein ver­schnür­tes Paket. Wie jetzt wei­ter­le­ben? Seit dem Tod der Mut­ter vor einem Jahr war das keine fremde Frage mehr für sie. Nach dem Ver­schwin­den des Vaters aber würde es eine bedrohli­che sein. Mit lang­sa­mer Bewe­gung, die sie gegen die Schwere ihrer Kno­chen und Mus­keln zustande brin­gen musste, legte sie ein Holz­scheit ins Feuer, damit es nicht aus­ging. Dann saß sie schwei­gend wie zuvor, das Kinn auf den Knien, die Augen offen und starr.
Gegen Mor­gen hörte sie etwas von der ande­ren Seite des Feu­ers, das nur noch leise glomm. Ein Rascheln, eine Bewe­gung. Das Mäd­chen wusste plötz­lich nicht mehr, ob es wollte, dass der, der da drü­ben lag, über­lebte. Warum hatte sie ihn gewärmt? Sie erin­nerte sich, dass er ihr gefähr­lich nahe gekom­men war, als er nach ihrer Planke griff, sie ihr viel­leicht sogar ent­rei­ßen wollte. Wer war er über­haupt? An Bord hatte sie das Gefühl gehabt, die Mön­che gli­chen ein­an­der, sie konnte ihre Gesich­ter nur unschwer unter­schei­den. Einer war ihr auf­ge­fal­len wegen sei­ner schwar­zen Haare, die über die Ton­sur wuch­sen und sie zu ver­stecken droh­ten. Ein jun­ger, nicht viel älter als sie. Sie hatte nicht gewagt, ihm allzu offen ins Gesicht zu sehen. War er das hier?


aus: Fluss­kie­sel: Geschich­ten von Auf­bruch und Wei­ter­ge­hen, Domi­no­plan, Jena 2020.
Alle Rechte beim Verlag.
Der Abdruck erfolgt mit freund­li­cher Geneh­mi­gung des Ver­lags und der Autorin.

 

 

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