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Kurze Ansprache des alten Rundfunkredakteurs an den Autor

Christoph Schmitz-Scholemann

 

ich brau­che etwas über die seele von ihnen
ja ja über die seele
schließ­lich haben wir november
etwa drei minu­ten über die seele
allen­falls drei zwanzig
und zum vor­trag geeignet
also kurze sätze
keine gro­ßen sprünge
und packen sie nicht zuviel hinein
kein blut keine schüsse
und keine kom­pli­zier­ten schlüsse
„nicht mehr als ein kohlweißling
wie er im juni über jedes kar­tof­fel­feld fliegt“
las­sen sie alles aus dem spiel
was schwer­mut ver­ur­sa­chen könnte
das wet­ter ist trübe genug
also keine lyrik und keine psychologie
am besten sie verzichten
auf jede form von inhalt
lachen sie nicht
das ist eine ern­ste kunst
nicht die orange ist das thema
son­dern das sei­den­pa­pier in das sie ein­ge­wickelt ist
nicht der schnee zählt
son­dern das weiß
in dem er sich versteckt
das wart ist nicht wichtig
son­dern die stimme
sagen sie: nie­mand weiß
was die seele ist
ob sie ein hor­mon ist
oder ein roman
oder eine not­wen­dige unmöglichkeit
ob sie ein buch ist
oder eine samm­lung von losen blättern
ob sie ein rekla­me­trick ist
ein trick des teu­fels und der katho­li­schen kirche
ob sie müh­sam wan­dert wie ein alpinist
ob sie abstür­zen kann und wohin
ob sie schluchzt
oder ob sie wan­dert wie eine elek­tri­sche laufschrift
und wohin und wie schnell
und wer sie schreibt
und warum
und wer sie liest
und warum
ob sie dop­pel­zün­gig ist
und ob sie über­haupt eine zunge hat
ob sie eine frau ist
und ob sie über­haupt ein geschlecht hat
ob sie sich fortpflanzt
ob die seele eines men­schen vom hund gebis­sen wird
wenn seine hand vom hund gebis­sen wird
ob sie von der hand in den mund lebt
oder schätze sammelt
ob sie sich mit der feder schmückt
die sie aus der hand legen
wenn sie mit dem schrei­ben aufhören
was sie sagen muß nicht über­zeu­gend sein
aber ange­nehm als geräusch
mehr gesang als rede
mehr gesumm als gesang
eine samm­lung von schatten
eine samm­lung von splittern
und auf kei­nen fall mehr als drei zwanzig


Schmitz-Schole­mann, Chri­stoph: Der Zustand L.: Gedichte und Über­set­zun­gen. Pee­Punkt, Havix­beck 1999.
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