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Isegrimm

Antje Babendererde

 

Jola ist der Wöl­fin und auch dem myste­riö­sen Jun­gen Olek immer wie­der begeg­net. Schließ­lich hat sie auf dem Trup­pen­übungs­platz die Höhle ent­deckt, in der er sich wohn­lich ein­ge­rich­tet hat. Olek ist krank, wei­gert sich aber, einen Arzt auf­zu­su­chen. Jola hilft ihm und ver­liebt sich in ihn.
In der fol­gen­den Szene kommt Jola in die Höhle zurück, um Olek Lebens­mit­tel und ein paar nütz­li­che Dinge zu brin­gen, vor allem aber, um ihn end­lich wiederzusehen.

Als ich end­lich in Oleks Höhle stehe, ist sein Kran­ken­la­ger ver­waist. Die Nach­mit­tags­sonne scheint durch das Fen­ster­loch, sie erwärmt und erhellt den klei­nen Raum. Alles ist ordent­lich auf­ge­räumt und sieht irgend­wie ver­las­sen aus. Wie eine eiserne Klam­mer legt sich die Ent­täu­schung um mein Herz.
Hat Olek sich aus dem Staub gemacht? Sicher das Nahe­lie­gend­ste, wenn man etwas Schlim­mes getan hat. Wieso sollte er mir ver­trauen? Weil ich ihm das Leben geret­tet und ihm etwas zu essen gebracht habe? Was hast du dir bloß erhofft, Jola? Völ­lig erle­digt lasse ich mich auf Oleks Matratze sin­ken und befreie mich aus den Rie­men des Rucksackes.
Ja, ver­dammt, er hätte mir ver­trauen müs­sen. Immer­hin weiß ich schon seit ein paar Wochen von sei­ner Exi­stenz, weiß, dass er der Dieb ist und habe ihn nicht ver­ra­ten. Wenn irgend­je­mand im Dorf her­aus­be­kommt, dass ich ihn decke und ihn auch noch mit Lebens­mit­teln ver­sorge, wird mein Ruf voll­kom­men rui­niert sein. Ich kann sie schon hören, die Alten. Nest­be­schmut­ze­rin. Räu­ber­braut. Polackenliebchen.
Er ist weg, Jola.
Hat alles ste­hen und lie­gen gelas­sen und hat sich aus dem Staub gemacht. Offen­sicht­lich hat das Cefuro­xim schnell gewirkt. Im Grunde muss ich mich dar­über freuen. Aber wenn Olek weg ist, was wird dann aus mir?
Ich lege die Arme auf meine Knie, lasse den Kopf dar­auf sin­ken und fange an zu heu­len. Meine Schul­tern zucken, Schluch­zer kom­men tief aus mei­nem Inne­ren und Trä­nen strö­men über meine Unter­arme. Ich flenne, wie ich es seit Ali­nas Ver­schwin­den nicht mehr getan habe.
„Jola.“
Mein Kopf schnellt in die Höhe. Da steht er, nur zwei Meter von mir ent­fernt. Er trägt den Holz­bo­gen quer über der Brust, fünf oder sechs gefie­derte Pfei­len­den ragen aus dem Köcher auf sei­nem Rücken und er hält ein totes Kanin­chen an den Läu­fen. Ich schniefe und wische mir mit dem Hand­rücken über Augen und Nase. Bin völ­lig hin- und her­ge­ris­sen. Sprachlos.
Die eiserne Klam­mer fällt ab und mein Herz beginnt hef­ti­ger zu schla­gen. Ich bin nicht allein. Wenn ich die Prü­fun­gen ver­mas­sele, wenn Kai Schluss macht, wenn nie­mand im Dorf mehr mit mir spricht, dann kann ich immer zu mei­nem Wald­elf in die Höhle zie­hen und mit ihm hier leben.
„Du weinst.“ Olek blickt bestürzt.
„Freu­den­trä­nen“, schniefe ich.
Er legt das Kanin­chen auf einem Holz­block neben sei­nem selbst­ge­bau­ten Herd ab und befreit sich vom Bogen und dem Rücken­kö­cher, die er beide an die dafür vor­ge­se­he­nen Haken in der Wand hängt. Er trägt Kais Party Hard-T-Shirt und zum ersten Mal muss ich wirk­lich über den däm­li­chen Spruch lachen.
Nach­dem der Tumult in mei­nem Her­zen sich ein wenig gelegt hat, finde ich auch die Worte wie­der. „Es ist nichts … ich dachte nur, du wärst … weg.“
Olek setzt sich mir gegen­über auf den nied­ri­gen Stein­tisch, sodass sich bei der klein­sten Bewe­gung unsere Knie berüh­ren. Der Duft von Kie­fern­harz, Wald­bo­den und wil­der Minze geht von sei­nem Kör­per aus.
„Wo soll ich denn hin?“
Seine Frage trö­stet und beun­ru­higt mich gleichermaßen.
„Nach Hause?“
„Das ist mein Zuhause.“
Okay.
„Danke für mein Leben, Jola“, sagt er leise.
Ich mur­mele ein ver­le­ge­nes: „War doch selbstverständlich.“
„Hast du … hast du jeman­dem erzählt von mir und die­ser Höhle?“
„Nein, Olek“ Ich schüt­tele vehe­ment den Kopf. „Und das werde ich auch nicht.“
„Gut. Auch von der Wöl­fin darfst du nie­man­dem erzählen.“
„Mach ich nicht.“
„Ver­sprich es mir.“
„Ich schwör’s.“
„Gut.“ Sein schie­fes Lächeln lässt mein Herz erneut schnel­ler schlagen.
„Sie … sie hat Wel­pen, nicht wahr?“, stoße ich hervor.
„Vier Stück.“
„Gibt es einen Rüden?“
„Nein.“ Er schüt­telt den Kopf. „Sie ist …“, Olek scheint nach einem pas­sen­den Wort zu suchen. „Allein­er­zie­hend“, sagt er schließ­lich. „Ist Stress so allein mit den vier Klei­nen, des­halb ich helfe ein bisschen.“
Oleks Deutsch ist gut. Ein paar Worte sind ver­dreht, aber ich ver­stehe ihn bestens.
„Du hilfst ihr ein biss­chen?“ Ich deute auf den Bogen an der Fels­wand. „Damit?“
„Ja.“
„Was du da tust, Olek, wird nicht ewig unent­deckt blei­ben. Mein Vater, er ist …“
„För­ster, ich weiß.“
„Und Jäger“, sage ich. „Das Sperr­ge­biet ist sein Revier. Die Wöl­fin, sie hin­ter­lässt Spu­ren. Losung an den Weg­kreu­zen, Reste von Ris­sen, Tritt­sie­gel im Schlamm an der Wildsuhle.“
„Ja, aber ich besei­tige Spu­ren, halte sie mit Men­schen­ge­ruch fern. Es … funktioniert.“
Men­schen­ge­ruch? „Des­we­gen hast du dort über­all hin­ge­pin­kelt.“ Er hat tat­säch­lich sein Revier mar­kiert, damit die Wöl­fin fernbleibt.
Olek zuckt mit den Ach­seln. „Du doch auch.“
Mir schießt das Blut ins Gesicht. Weiß Gott, wie oft ich dort in die Büsche gepin­kelt habe, in dem Glau­ben, allein zu sein mit Fuchs und Hase. Aber das ist nun auch egal.
„Olek“, sage ich, „du kannst nicht ver­hin­dern, dass die Leute aus dem Dorf irgend­wann spitz­krie­gen, dass sich in ihrer Nähe eine Wöl­fin nie­der­ge­las­sen hat. Und dann wird die Hölle los sein.“
„Die Hölle?“
„Na ja, es wird ziem­lich viel Wir­bel geben. Die Leute wer­den Angst haben, die Wöl­fin könnte sich an klei­nen Kin­dern ver­grei­fen und Stim­mung gegen sie machen.“
„Ist Schwach­sinn. Gro­ßen Schwachsinn.“
„Gro­ßer Schwach­sinn“, ver­bes­sere ich ihn. „Es heißt: Gro­ßer Schwachsinn.“
„Sie ist sehr scheu. Sie mag Men­schen­ge­ruch nicht.“
„Ja, aber die Leute haben Vor­ur­teile. Sie fürch­ten sich nun mal vor Wöl­fen.“ Und mit Argu­men­ten ist gegen tief­sit­zende Äng­ste nichts aus­zu­rich­ten, mit die­ser Pro­ble­ma­tik kenne ich mich bestens aus.
Ich muss an die Schafe am Wald­rand den­ken. Leichte Beute, Häpp­chen auf dem Sil­ber­ta­blett. Es ist nur eine Frage der Zeit, dass die Wöl­fin sich ein Schaf holt oder eine Gans.
Das Ver­nünf­tig­ste wäre, mit mei­nem Vater zu spre­chen. Aber ich will nicht, dass das Mär­chen von Olek und mir zu Ende ist, bevor es rich­tig ange­fan­gen hat. Außer­dem habe ich gerade einen Schwur geleistet.
„Wie geht es dei­ner Hand?“, frage ich ihn.
„Bes­ser.“
„Zeig mal her.“
Olek hält mir seine Rechte ent­ge­gen. Die Hand ist nicht mehr geschwol­len, die bei­den Biss­lö­cher in Zeige- und Mit­tel­fin­ger sind noch rot umran­det und ich schnup­pere daran.
„Sieht gut aus“, sage ich. „Nimm dich das näch­ste Mal vor dem Hof­hund in Acht.“
Ver­le­gen wen­det er den Blick ab.
„Du schleichst im Dorf herum und beklaust die Leute, Olek. Du bist ein Dieb. Du hast auch mich bestohlen.“
Wort­los langt er in die Sei­ten­ta­sche sei­ner Shorts und reicht mir mein Opi­nel-Mes­ser. Ich schiebe seine Hand von mir weg.
„Behalte es, du kannst es mehr gebrau­chen als ich. Es geht dabei auch nicht um mich, Olek. Die Leute sind wütend, sie wer­den dir eine Falle stel­len und irgend­wann krie­gen sie dich.“
„Nie­mand kriegt mich.“ Er steckt das Mes­ser wie­der ein.
Ich hole tief Luft und frage: „Wo kommst du eigent­lich her? Irgendwo muss doch deine Fami­lie sein.“
Die Ant­wort ist Schweigen.
„Du kommst aus Polen, nicht wahr?“ Ich deute auf das Wör­ter­buch. „Warum ver­steckst du dich hier, Olek?“
Kopfschütteln.
„Du kannst mir ver­trauen, ich ver­rate dich nicht.“
Wie­der gequäl­tes Kopf­schüt­teln. Olek sieht aus, als ob er mir alles erzäh­len will und nicht kann. „Wenn ich es dir sage, dann …“
„Müss­test du mich töten, ich weiß.“
Er grinst. Ich habe ihn tat­säch­lich zum Lachen gebracht, mei­nen geheim­nis­vol­len Höh­len­be­woh­ner. Ein Blick auf meine Arm­band­uhr sagt mir, dass ich mich auf den Rück­weg machen muss. Ich stehe auf.
„Du willst schon gehen?“
Mein Magen zieht sich zusam­men. Olek ist ein­sam. Am lieb­sten möchte ich ihn in die Arme neh­men, ihm sagen, dass er nun nicht mehr allein ist. Dass ich ja jetzt da bin, dass alles gut wird, dass …
„Du musst auf­pas­sen, Jola.“
„Auf­pas­sen?“
„Auf dich auf­pas­sen. Hier im Wald … ist nicht gut, dass du immer allein unter­wegs bist. Ich ver­su­che … ich …“
„Du passt auf mich auf?“
Er nickt.
In Anbe­tracht der Tat­sa­che, dass erneut ein Mäd­chen ver­schwun­den ist, und mei­nem seit Wochen anhal­ten­den Gefühl, dass der Wald Augen hat, bin ich unheim­lich froh über Oleks Geständnis.


Ise­grimm, Arena Ver­lag, Würz­burg 2016.
Der Abdruck erfolgt mir freund­li­cher Geneh­mi­gung des Arena Ver­lags Würzburg.

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