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Ich bin ein Elephant, Madame

Christoph Schmitz-Scholemann

 

in der stadt alex­an­dria lebte eine straußbinderin
sie arbei­tete auf dem blumenmarkt
sie war jung und trug ein tuch um den hals
die­ses tuch hätte ich sein mögen
und den demü­ti­gen nacken des mäd­chens umschmiegen
aber ich war das graue und schweigsame
was auf die­ses tuch gemalt war
ein ele­phant vermutlich
ja man konnte mich mieten
wer mich mie­tete den trug ich wohin er wollte
meist ging es zum einkaufen
ich trug den herrn und sei­nen koch
die schafs­köpfe und kürbisse
taube und feige und nüsse und fisch
und minze und ochsenschwänze
und das gera­schel der bedeut­sa­men papiere
ich war sehr ver­liebt in die straußbinderin
fast jeden tag habe ich ihr ein geschenk überreicht
einen gestoh­le­nen apfel
mit einem schwung mei­nes rüssels
eine orange
einen sil­ber­nen kamm eine nach zimt duf­tende rose
und ein­mal geschah das unglaubliche
ich habe ihr mit dem rüs­sel das tuch gelöst
die­sen hauch die­sen geist die­sen traum
den sie um den hals trug
und ich habe das tuch in den him­mel geworfen
wo es schwebte und zitterte
wie eine lie­be­volle drohung
ich fühlte mich sehr leicht
als wäre ich selbst die­ses tuch
ich habe die strauß­bin­de­rin in die­sem augenblick
nur von der seite gesehen
aber ich hatte das gefühl daß sie lächelte
und daß sich der sei­den­stoff über ihrer brust
etwas spannte wie bei einem seufzer
dann gin­gen wir wie­der an unsere arbeit
andern­tags war sie verschwunden
lange noch habe ich mich gefragt
ob sie mich ver­ges­sen hat
und woher es kommt
daß man manch­mal glück­lich ist
obwohl man eine häß­li­che haut hat
viel zu kleine augen
und kei­ner­lei rhe­to­ri­sche begabung

und unter­halb die­ser fragen
lag noch eine andere frage
oder ein seufzer
den ich nicht genau erken­nen kann
in die­sem schweig­sa­men grauen
das ich bin


Schmitz-Schole­mann, Chri­stoph: Der Zustand L.: Gedichte und Über­set­zun­gen. Pee­Punkt, Havix­beck 1999.
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