Diana Hellwig
Auf dem Reklameaufsteller hatte jemand das „r“ weggewischt. Aus den Brötchen waren „Frische Fischbötchen“ geworden. Die Leute schienen sie zu lieben. Die Tische auf der Terrasse waren vollbesetzt. Kinder rannten im Gelände umher, verscheuchten Blesshühner von den Wegen und warfen bisweilen mit ungelenken Schwüngen Futter ins Wasser. Dunkle Mäuler kamen aus der Tiefe herauf und schnappten nach den Körnern, die aussahen wie kleine Kotstücke. Die Kinder kreischten vor Entzücken und Ekel. Über dem Gelände lag ein Geruch von Brackwasser und Rauch.
„Kommen Sie, ich zeige Ihnen die Tiere.“ Das Paar schaute sich kurz nach den Kindern um, die sich unter ihresgleichen gemischt hatten, und folgte dem Mann. Er trug Gummistiefel und einen dunklen Kittel. Zu dritt gingen sie an einer Menge blinkender Teiche und Becken vorüber.
„Hier sind die, die wir jetzt verkaufen“, sagte der Mann und blieb bei den Bottichen mit Lachsforellen stehen.
„Und das?“ Die Frau zeigte auf ein anderes Becken.
„Störe“, sagte der Fischer. „Aber eher für die Zucht.“
Die Störe hatten die Brustflossen flach ins Wasser gelegt, und es sah aus, als würden sie fliegen. Ab und zu kamen sie ganz nach oben und zerschnitten mit ihren gezackten Rücken für kurze Augenblicke das Wasser. Es war, als höben sie mutwillig die Grenze zwischen den Elementen auf, vermischten das Wasser mit der Luft, ermöglichten den Menschen eine Berührung. Ganz kurz und wie zufällig strich eines der Tiere durch die Handfläche der Frau hindurch und verschwand wieder in der Tiefe. Erschrocken zog sie ihre Hand zurück.
„Wussten Sie, dass der Rhein vor hundert Jahren noch voller Lachs war?“, fragte der Fischer. Sein Kescher stach in das Forellenbassin. „Lachs, wohl gemerkt!“ Die Muskeln des Mannes spielten, als er das Netz heraufzog. „Die Schiffer beschwerten sich damals über das eintönige Essen. Sie wollten wenigstens einmal in der Woche keinen Lachs. Er lachte und wuchtete die Fracht heraus.“
Die Forellen wanden sich. Ein Schlingern hellglänzender Bäuche und dunkel gefleckter Rücken.
„Was meinen Sie, wieviel das ist? Zwanzig Kilo? Ja, wahrscheinlich sogar mehr. Aber das meiste ist Babyzeug. Viel zu klein.“ Der Fischer sortierte einige größere Tiere heraus und kippte den Rest zurück.
In ihrer neugewonnenen Freiheit stoben die Fische auseinander und verschwanden in der Tiefe des Beckens – bis auf einen. Er trudelte und trieb im Wasser.
„Da ist noch einer!“ Die Frau ruft es dem Fischer nach, der eben mit den abgeschöpften Forellen davon will. Der Fischer stellt den Eimer ab, kommt zurück und greift ins Becken. Das Maul des Tieres öffnet und schließt sich quälend langsam.
„Erstickt er?“, fragt die Frau. „Er erstickt doch, oder?“
Der Fisch liegt in der geöffneten Hand des Mannes. Das sichtbare Auge blickt rund und weiß mit einer winzigen, zusammengezogenen Pupille. Die Kiemen, zwischen die der Fischer seine Finger steckt und die sich gegen diesen Widerstand zu schließen versuchen, sind blutrot. Er sagt: „Wir werden sehen.“
Der Eingang zum Schlachthaus war für Gäste gesperrt. Ein Pflanzkübel stand in der Zufahrt, und über den Scheiben der Fenster klebte undurchsichtige Folie mit Abbildungen von bunten Fischen und Muscheln. Auf der Schräge des Dachs lagen dunkelrot und schwer die Zweige eines Kirschbaums, in denen sich das Summen von Insekten mit dem Schmatzen der Stare mischte. Der Weg neben dem Haus war rotgesprenkelt und matschig von gärendem Fruchtfleisch.
„Mistviecher!“ Der Fischer war ausgerutscht, fing sich aber wieder und zog die Schlachthaustür hinter sich zu. Das Paar schaute ihm nach, als erwarte es etwas. Ein Geräusch, das ihnen sagte, es sei so weit, eine Art von Erlösung. Doch sie hörten – nichts. Keinen Ton. Der Raum, in dem der Fischer verschwunden war, schwieg, und überhaupt alles, die fernen Stimmen, das Wasserrauschen, das Spektakel der Vögel, schwieg. Es schien, als habe sich die Stummheit der Fische über das Gelände gelegt.
Und stumm waren auch sie geworden. Gelähmt kamen sie sich vor. Sie standen da und sahen zur Tür des Schlachthauses. ‚Ja‘, dachten sie, ‚ja, so ist das.‘ Und der Mann, der sich ein wenig von der Frau abgewandt hatte, seufzte.
Die Störe glitten erhaben und gleichgültig durchs Wasser. Die Frau war noch einmal zu dem Becken gegangen. Die Tiere gefielen ihr. ‚So etwas Schönes‘, dachte sie. Ob sie einen kaufen sollte? Aber es ging ja nicht. Sie und ihr Mann besaßen weder Garten noch Teich, sondern nur diese Doppelhaushälfte in einem Wohngebiet, mit Handtuchgrün davor. Ein richtiges Grundstück, das wäre was. Oder, wenn man keine Kinder hätte, ein Appartement in einer richtigen Stadt.
Sie gingen schließlich zur Terrasse zurück. Der Fischer war nicht wieder aufgetaucht. Mit über die Augen gehaltenen Händen schauten sie nach den Kindern. Sie hörten ihre Stimmen. Jauchzen und Schreien. Es kam von den Abfischbecken, ganz hinten. Die Kinder lagen bäuchlings auf dem hölzernen Steg und manövrierten Papierboote zwischen den Fischleibern entlang. Oder nein, sie hatten die Boote auf die Rückenflossen einzelner Tiere gesteckt und jubelten, wenn eines zwischen den dichtgedrängten Leibern nicht abtauchen konnte, sondern panisch schlängelnd das Weite suchte.
Es sah aus, als schwömme das Boot von allein, und wenn es schließlich abfiel, patschten die Kinder mit flachen Händen vor Aufregung und Ärger ins Wasser. Dann packten sie das nächste Tier an der Rückenflosse und versuchten es erneut.
„Nochmal, noch einmal!“, schrien sie ihren Eltern zu und lachten und verlangten, dass sie diesen Ausflug bald wiederholen sollten.
aus: Der lächelnde Hund. Erzählungen, Edition Muschelkalk der Literarischen Gesellschaft Thüringen e. V, Band 48, Weimar 2019.
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