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Farbenleere

Anne Büttner

 

Heute ist ein­deu­tig eine 47. Ich bin mir ganz sicher. Genau so muss es aus­se­hen, wenn man die Vier und die Sie­ben ver­mischt. Wie eine 47 eben. Mat­schig. Schlam­mig. Trost­los. Selbst der Matsch macht sich nicht die Mühe, ordent­lich matsch­far­ben zu sein, son­dern hört bei dreckig lehm­far­ben auf. Man möchte jedem gra­tu­lie­ren, dem die­ser Anblick erspart bleibt. Müsste ich mich jetzt zwi­schen blind und taub ent­schei­den, wüsste ich das erste Mal, was ich wählte. Nichts mehr da von der 38 – Dei­ner Lieb­lings­farbe. Die blen­dende Drei der Sonne, die bei einer him­mel­blauen Acht so lang auf uns scheint, bis wir aus­se­hen, wie ein scho­ko­la­di­ges Erd­beer­eis und uns so weit von der 47 ent­fernt füh­len. Ich weiß, dass gerade nicht die Jah­res­zeit für eine 38 ist. Aber meinst Du, wir kön­nen wenig­stens eine 83 haben?

Gestern Nacht fuhr ich durch die Stadt und weißt Du was? Sie war dun­kel. Klar, es war ja Nacht, könnte man dann jetzt sagen. Aber Nacht war vor­her auch schon mal. Nur sah die damals anders aus. Dies­mal fun­kelte da nicht eine ein­zige 13 am Him­mel. Ich hab genau geguckt. Ich weiß, wie es fun­keln muss, damit es für Dich zu einer 13 reicht. Aber da war nichts. Nicht mal eine klit­ze­kleine. Von den Stra­ßen­la­ter­nen kannte ich das schon, aber dies­mal zwin­ker­ten mir nicht mal mehr die Ampeln zu, bevor sie ihre Augen schlossen.
Weißt Du, wie still es hier sein kann? Ich meine nicht diese ent­spannte, durch­at­mende Ruhe, die uns auf unse­ren nächt­li­chen Sperr­müll­sa­fa­ris oder Stern­schnup­pen­wil­de­reien beglei­tete. Ich meine eine unan­ge­nehme, beklem­mende Stille. Keine Ahnung, wonach das für Dich schmecken oder rie­chen würde oder wel­che Form sie hätte. Es fiel mir ja jetzt selbst auch das erste Mal über­haupt auf, wie still es hier ist und noch stil­ler sein könnte, wären da nicht die zahl­lo­sen Schlag­lö­cher, die Bruch­ge­räu­sche am Mate­rial und Fluch­ge­räu­sche an mir ver­ur­sa­chen. Nichts mehr da von dem, was die Nacht für uns zu einem klei­nen Tag machte. Wohin ich auch fuhr, so oft ich auch abbog, über­all nur diese große dunkle Eins.

Die Tage seit unse­rem Tele­fo­nat waren umge­rech­net durch­schnitt­lich eine Zehn. Genau weiß ich es natür­lich nicht, es gab nicht wirk­lich viele Zehnen mit Dir. Aber frag­test Du mich, würde ich sagen, die mei­sten Tage, mal abge­se­hen von der 47 heute, waren eine Zehn. Also eine nicht ganz so dunkle Eins, weil ja noch die Null vom die­si­gen Tages­licht dabei ist. Eine Sie­ben sind sie kei­nes­falls. An die Sie­ben erin­nere ich mich genau. Wenn ich die Augen schließe, spüre ich wie­der, wie sie uns an war­men gestreif­ten Tagen im Park so oft an der Sohle kit­zelte. Was man von der sat­ten Neun nicht behaup­ten kann, in die ich dabei das ein oder andere Mal trat. Du fan­dest das lustig. Neun von unten sei okay, wirk­lich blöd sei eine Fünf von oben. Das sei ein­deu­tig ein Omen – und zwar ein Schlech­tes. An eine Fünf von oben kann ich mich glück­li­cher­weise nicht erin­nern. An vie­les andere bedau­er­li­cher­weise kaum noch.

Bunt karierte Mor­gen, die nach Honig schmecken, hatte ich lang nicht. Die Graf­fi­tis um die Ecke, die nach Lieb­lings­lied klin­gen, sind fast nicht mehr zu sehen. Von der geschwun­ge­nen Stim­mung der Men­schen hier, habe ich ewig nichts gespürt. Was am Hupen des Müll­au­tos, das sich in aller Früh rück­wärts in die Straße schiebt, tröpf­chen­för­mig sein soll, weiß ich auch nicht mehr. Ach so – die Häu­ser­wand in der Neben­straße schmeckt übri­gens selbst dann nicht wie die Num­mer 64 beim Inder, wenn man das Brot weg­lässt und sei­den­wei­che Obst­stände gibt es hier auch nicht. Weder am Stra­ßen­rand noch anderswo. Der Haus­wein vom Fran­zo­sen gegen­über fühlt sich nicht nach einem Ent­span­nungs­bad an Herbst­aben­den an, son­dern nach Kater am näch­sten Mor­gen. Die Gasse, die zu dem ver­beul­ten Spiel­platz führt, fließt ebenso wenig gemäch­lich, wie die moo­sige Bank an deren Ende. Die Hin­ter­höfe rie­chen nicht nach Sonn­tag­mor­gen, die Bäume vor mei­nem Fen­ster klin­gen defi­ni­tiv nicht wie ein Löf­fel, der beim Umrüh­ren von Kakao am Glas anschlägt und die Pfla­ster­steine zum Hin­ter­hof auch nicht wie der Blin­ker eines weich­ge­pol­ster­ten Taxis. Die Luft nach Som­mer­re­gen hier hat mit einer Wickel­decke für Babys ebenso wenig gemein­sam, wie die Kino­ses­sel mit einer Hand­voll frisch­ge­pflück­ter Minze. Mon­tage schmecken auch nicht sal­zi­ger als Frei­tage und an mai­grüne Wochen­en­den kann ich mich fast nicht mehr erin­nern. Der Weg von mir zu Dir wiegt defi­ni­tiv genauso viel, wie alle ande­ren Wege auch. Wenn über­haupt, fühlt sich nur ein frisch­be­zo­ge­nes Bett nach einem frisch­be­zo­ge­nen Bett an und nicht etwa das zer­fal­lene War­te­häus­chen, über des­sen ein­zi­gen zwei Sitz­plät­zen mal ein Mistel­zweig hing. Das Geräusch, das ertönt, sobald man die kleine Buch­hand­lung betritt, ist nicht aus Fleece, die alten Thea­ter­spie­gel in den Wasch­räu­men dei­nes Lieb­lings­re­stau­rants rie­chen nicht nach zer­brö­sel­ten Keks­re­sten in den Brottaschen Vier­jäh­ri­ger und das Gemüt der Ver­käu­fe­rin unten im Eck­la­den ist alles andere als som­mer­spros­sig. Die Aus­lage in der alten Apo­theke mit dem noch älte­ren Apo­the­ker duf­tet nicht weiß und eine Par­tie Schach auf dem Park­deck des Ein­kaufs­zen­trums riecht nicht nach Melone. Die selbst­ge­mach­ten Waf­feln in der Bude am Bahn­hof schmecken nicht nach einem lang­sa­men Wal­zer mit der Lieb­sten und die dau­men­nagel­große Narbe an mei­nem lin­ken Knie duf­tet ganz bestimmt nicht nach däni­schen Butterkeksen.

Weißt Du noch? Die Narbe? Wir haben sie nach dem Pro­fes­sor benannt, bei dem Du jetzt arbei­test. Deine Bewer­bung für die Stelle brachte ich damals vor­sätz­lich zur Post und mich dabei fahr­läs­sig zu Fall. Du bekamst die Zusage und ich eine Narbe mit Namen.

Du wohnst jetzt, wie Du sagst, in der häss­lich­sten Stadt der Welt. Ich glaube Dir nicht. Schlim­mer als hier kann es da gar nicht sein. Du hast keine Ahnung, wie es hier inzwi­schen aus­sieht. Bun­ter als grau war es hier schon lang nicht mehr. Ich weiß ja – Du hast es mir am Tele­fon schon gesagt. Aber viel­leicht schaffst Du es ja die­sen Monat doch irgend­wie und wir kön­nen uns sehen. Wirst Du es ver­su­chen? Mir zurück­schrei­ben? Ich wüsste so gern, ob wir nach fri­schem oder nach kal­tem Kaf­fee schmecken.


aus: Der Rest ist das, was übrig bleibt, Kurz­ge­schich­ten, 2011.
Alle Rechte bei der Autorin.
Abdruck mit freund­li­cher Geneh­mi­gung der Autorin.

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