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Duftende Blondine mit Schlappohren

Wolfgang Held

 

Zu den zahl­rei­chen bekann­ten und wahr­schein­lich auch den bis­her noch nicht ent­deck­ten Geschwi­stern der Phan­ta­sie muss wohl ebenso der ganz und gar über­flüs­sige Scha­ber­nack gezählt wer­den. Wie Sta­ti­sti­ken ver­mu­ten las­sen, sticht die­ser kleine Teu­fel dort zu, wo jemand, ganz gleich ob jün­ger oder älter, sich in Lan­ge­weile und Allein­sein sei­ner Phan­ta­sie über­lässt. Die hier erzählte Geschichte begann eigent­lich schon um den noch schnee­freien Advent herum. Zeit der Wunsch­zet­tel. Knabe Hugo, von dem hier im Fol­gen­den die Rede sein soll, wid­mete die­ser wich­ti­ge­ren Frage mehr Stun­den als für Haus­auf­ga­ben oder son­sti­gen, aus sei­ner Sicht ätzen­den Pflich­ten. Seine Phan­ta­sie spru­delte. Die Erwar­tungs­li­ste für das, was allein für ihn unter dem Christ­baum schmücken sollte, wurde lang. Län­ger als jeder Schul­auf­satz. Allein die Zahl der Recht­schreib­feh­ler blieb auf sei­nem Zet­tel pro­zen­tual unge­fähr gleich der Anzahl sei­ner Bestel­lun­gen. Aber was soll es auch! Bei dem Wort Weih­nach­ten ohne „h“ zum Bei­spiel weiß schließ­lich sogar ein Klas­sen­doofi, dass es sich nicht um Ostern drehte. Wunsch­mä­ssig geli­stet, listete Hugo elf ernst­hafte, nach sei­ner Schät­zung für die echt krass ver­die­nen­den Eltern leicht bezahl­bare Posi­tio­nen, begin­nend mit einem ech­ten Schwei­zer Taschen­mes­ser, drei Büch­sen gezucker­ter Kaf­fee­sahne zum aus­nahms­weise erlaub­ten Ver­na­schen, sowie ein bis drei Lego – Bau­kä­sten, eine Kamera (digi­tal!), eine Play­sta­tion, vier DVD’s, span­nend und ohne klug­schei­ße­ri­sches „Was lehrt uns das?!“, ein „Drei-Frage-Fra­ge­zei­chen – Buch“ und schließ­lich total spit­zen­mä­ßig – ein Hund! Leben­dig! Kom­plett vier­bei­nig und echt vor­zeig­bar. Bul­lig natür­lich! Typ Kampf­hund! So als ’ne Art Body­guard in gezähmt! Dazu nicht wäh­le­risch, was das Fres­sen angeht. Kacken und der­glei­chen nur auf die Schnelle beim Gas­si­ge­hen. Und gefäl­ligst dezent, also unauf­fäl­lig. Es soll wegen sol­cher hünd­lich – hin­ter­häuf­li­gen Stink­hau­fen ja schon zwi­schen geruchs­emp­find­li­chen Per­so­nen und ästhe­tisch leicht gestör­ten Tier­lieb­ha­bern zu Hand­greif­lich­kei­ten gekom­men sein. Also geschis­sen wird nur in Deckung!
Eine gemein­same Bera­tung zwi­schen Hugo, des­sen Eltern, sowie, als finan­zi­ell betei­ligte Bei­sit­zer dazu ein­ge­la­den, Oma und Opa. Die Kon­fe­renz fand sei­ner­zeit zwi­schen zwei­tem und drit­tem Advent statt. Dauer: Zwei Stun­den, zwölf Minu­ten. Ergeb­nis: Tri­umph der Erwach­se­nen. Knock-out für die Phan­ta­sie. Von Hugo trä­nen­be­glei­tet mit sire­nen­haf­tem Geräusch. Ätzend! Wut und Trotz in XXL! Der Knabe zog blank. Mit sei­ner stärk­sten Waffe. Er bockte. Volle vier Tage rund um die Uhr. Er schwänzte ein­mal gänz­lich ohne Scham und Scheu die Schule, pin­kelte am hel­len Tag drei­mal öffent­lich links vorn an den creme­far­bi­gen Mer­ce­des des Nach­barn und beschränkte die häus­li­chen Dia­loge auf Kopf­schüt­teln oder knap­pes Nicken. Höch­stens ein lei­ses und gequäl­tes Schluch­zen gab er zwi­schen­durch noch von sich. Und die Phan­ta­sie rap­pelte sich nur ganz, ganz zöger­lich aus dem Koma.
Die Eltern ver­tief­ten sich eine Weile in päd­ago­gi­sche Über­le­gun­gen. Was man noch vom Hö-ren­sa­gen über die erzie­he­ri­sche Wir­kung von Ohr­fei­gen in Erin­ne­rung hatte, spielte dabei durch­aus eine Rolle und auch, wie eigent­lich einst das Hoses­tramm­zie­hen bewerk­stel­lig wurde. Wer haut und mit was, also mit blan­ker Hand, einem Koch­löf­fel oder dem längst in den Kel­ler ver­bann­ten Tep­pich­klop­fer? Und wer hält den Hosen­be­sit­zer wäh­rend der Klop­pe­rei fest? Und wie wird gesi­chert, dass Hugo mit sei­nem Gebrüll nicht das Wohn­ge­biet alar­miert? Es gibt Leute, die rufen bei Kin­der­ge­heul sofort die Poli­zei, das Jugend­amt oder den Herrn Pfar­rer an. Nein! Drei­mal nein! In unsere Fami­lie kein Rück­fall ins Mit­tel­al­ter! Also siegte bei Hugos Eltern letzt­lich die huma­ni­täre Gewalt­lo­sig­keit. Und letzt­lich gewann damit auch Hugo.
Der Junge bekam das Taschen­mes­ser mit dem wei­ßen Kreuz, Lego-Burg und Lego-Schiff. eine Kamera, zwei Kri­mis – Jugend­bü­cher und … kein Tier! Weder groß noch klein! Stand­punkt der Eltern: Wenn wir uns zur Zeit keine grö­ßere Woh-nung lei­sten kön­nen und die jet­zige nicht reicht für ein Brü­der­chen oder Schwe­ster­chen. dann genügt der Platz erst recht nicht für ein Tier. Und über­haupt, Vieh­zeug kommt uns nicht ins Haus – Basta!
Hugo trotzte nicht. Er sah die Sache so, wie der Spruch lehrte, der bei sei­ner Oma ein­ge­rahmt über dem Ver­tiko hing: Kommt Zeit, kommt Rat!
Was kam, das war nach mit­tel­wer­ti­gen Zen­su­ren, Kar­ne­val und Heu­schnup­fen kalen­der­ge­recht Ostern im Jahr des Hasen. Hugo kün­digte unter dem Ein­fluss sei­ner lang­sam wie­der erwa­chen­den Phan­ta­sie gleich mit dem Erschei­nen der ersten Früh­lings­blü­her in der Land-schaft und Scho­ko­ha­sen im Super­markt sei­nen Wunsch zum Fest an. Nicht noch ein­mal diese bekloppte Suche­rei in Haus und Gar­ten nach ange­pin­sel­ten Eiern, womög­lich noch Güte­klasse win­zig und bil­lig. Kein grü­nes Gras­nest mit Kari­es­bom­ben und sol­che bereits zum drit­ten­mal zu Scho­ko­ha­sen umge­schmol­ze­nen Niko­läu­sen! Dies­mal end­lich ein Tier. In echt! Kein Käfig­vo­gel ! Keine leben­di­gen Fische, Schild­krö­ten, Laub­frö­sche, Meer­schwein­chen oder der­glei­chen Juck­reiz ver­ur­sa­chen­des Vieh­zeug. Nein, ein Hund soll es nun end­lich doch sein! In echt! Vier­bei­nig, stu­ben­rein und pfle­ge­leicht! Der glei­che wie auf dem Weih­nachts­zet­tel, nur dies­mal ganz in schwarz, bitte!
Nun gab es kei­nen erneu­ten Fami­li­en­rat. Vater und Mut­ter sahen ein­an­der an, spür­ten plötz­lich auch längst ver­welkte Phan­ta­sie, zwin­ker­ten sich ver­schmitzt zu und erklär­ten: Hugo, du sollst nun end­lich einen Vier­bei­ner haben! Auf vier Pfo­ten und total leben­dig! Natür­lich völ­lig in schwarz, von ganz unten bis ganz oben!
Am Mor­gen des Oster­sonn­tag im Jahr des Hasen wurde Hugo erwar­tet. Die Über­ra­schung war so nied­lich, so weich, so fried­lich, so warm und im sei­den­glän­zen­den Schwarz, dass Hugo seine Sehn­sucht nach einen Hund auf der Stelle änderte. Er gab dem Tier­chen auch sofort einen Namen: Ade­lig natür­lich! Prin­zes­sin Schlen­k­e­rohr! Kein Kläf­fer, kein Stu­ben­ti­ger – ein Kanin­chen! Kom­plett mit Stall für einen Platz drau­ßen neben der Ter­rasse. Von heute an, lie­ber Tier­be­sit­zer Hugo, erwar­tet deine Prin­zes­sin Schlen­k­e­rohr von dir sau­bere Unter­kunft, täg­lich! Aus­rei­chend Kanin­chen­fut­ter, täg­lich! Und natür­lich viel, viel freund­li­che Zuwen­dung, täg­lich!! Alles klar? Alles klar, ant­wor­tete Hugo. Er wen­dete bereits sei­nen lie­be­voll­sten Blick keine Sekunde von der put­zi­gen Stallprinzessin.
Es pas­sierte bald unge­wöhn­lich wie eine Kirsch­blüte im Win­ter oder eine Ren­ten­er­hö­hung von mehr als 1,5 Pro­zent für alle Alten, aus­ge­nom­men Abge­ord­nete und Regie­rungs­mit­glie­der. Ein super­kras­ses Wun­der. Wenige Tage reich­ten, und aus Hugos Zunei­gung für den Stall­ha­sen war Liebe gewor­den. Echte! Total! Bis in seine Träume! Nach der Schule bum­melte er nicht mehr nach Hause, er eilte. Manch­mal mit Umweg über den Gemü­se­markt. Um, wie er das nannte, dort abzu­stau­ben. Ein paar Möh­ren oder Salat­blät­ter. Kanin­chen­fut­ter eben. Der präch­tig an Wuchs gedei­hen­der und mit stei­gern­der Fress­lust bela­stete Lieb­ling war Hugos Her­zen schnell so nahe gerückt, dass ihm der lange Adels­name bald zu unper­sön­lich erschien. Also nicht län­ger Schlen­k­e­rohr, son­dern kurz und zärt­lich Schlenki, in ver­stärkt lie­be­vol­ler Laune Schlenkilinchen!
Für den Kose­na­men hatte die Fami­lie ein­schließ­lich der Vete­ra­nen und ent­fern­te­ren Ver­wandt­schaft noch Ver­ständ­nis. Aber damit reichte es dem Clan auch. Was sich näm­lich dann in den fol­gen­den zwei, drei Mona­ten phan­ta­sie­ge­steu­ert und von Scha­ber­nack gekit­zelt mit Hugo und sei­ner Schlenki ent­wickelte, grenzte für Eltern und wohl­ge­sinn­ten Ver­wandte an den Gedan­ken der Not­wen­dig­keit einer ärzt­li­chen Behand­lung. Oma blät­terte bereits im Tele­fon­buch, Abschnitt Kin­der­psy­cho­lo­gie, pri­vat und ver­trau­lich. Allein die Sorge um das öffent­li­che Anse­hen der Fami­lie hielt diese Vor­gänge unter dem Tep­pich der Ver­schwie­gen­heit. Ange­fan­gen hatte es damit, das Hugo an Schlen­kis stren­gem Stall­ge­ruch Anstoß nahm. Er setzte heim­lich dage­gen Vatis Geburts­tags­ge­schenk für Mutti ein. Par­füm! Cha­nel Nr. 5! 60 Euro bei Dou­glas im Angebot.
Schlenki duf­tete, als sei sie soeben aus der teu­er­sten Loge des Wie­ner Hof­bal­les oder einem Pari­ser Freu­den­haus gehop­pelt. Es wurde dann an die­sem Tag für unge­fähr eine Stunde etwas laut in der Woh­nung. Hugo musste vier Tage Fern­se­h­ent­zug und die Wie­der­kehr von Schlen­kis Stall­duft­marke ertra­gen, was er eini­ger­ma­ßen mit Fas­sung erdul­dete. Immer­hin beschäf­tigte ihn längst ein neuer, der Ver­schö­ne­rung sei­nes immer schlapp­oh­ri­ger wer­den­den Lieb­lings die­nen­der Gedanke. Die Phan­ta­sie blühte wie die Nase eines Wein­se­li­gen nach einer Fla­sche Châ­teau Mou­ton 1988. Die Grund­idee flat­terte aus der Wer­bung im Fern­se­hen. Das Geld dafür sam­melte Hugo bei sämt­li­chen erreich­ba­ren Ver­wand­ten und Bekann­ten. Vor­wand: Klas­sen­spende zum Schutz der bedroh­ten Tier­welt! Ret­tet die Fle­der­mäuse mit der Huf­ei­sen­nase! Eine Tante aus Dres­den spen­dete 7,26 €. Es kam tat­säch­lich soviel zusam­men, dass neben dem ver­heim­lich­ten Zweck noch drei Euro und vier­und­vier­zig Cent übrig blie­ben. Der grö­ßere Teil lan­dete, wie geplant, bei der Firma für feine Düfte, Zahn­bür­sten, ver­schie­dene Gum­mi­ar­ti­kel usw. Dies­mal zahlte Hugo für Haar­tö­ner! Gold­blond ! Anwen­dung kin­der­leicht! Ein­rei­ben und fer­tig. Schlenki leuch­tete nach drei­fa­cher Behand­lung in sei­nem ge-pfleg­ten Stall über Streu und Eigen­ro­sin­chen hin­weg wie ein vier­bei­ni­ger, lan­g­löf­fe­li­ger Gold­bar­ren. Phan­ta­sie und Scha­ber­nack hüpf­ten ver­gnügt im Sechseck!
Dies­mal waren die Stim­men der Eltern frei­lich aus der Woh­nung bis hin­über auf die andere Stra­ßen­seite zu hören. Sogar Ein­zel­hei­ten! Da war ein Satz von Hugos Vaters dabei, den hatte der Knabe noch nie­mals gehört. Nicht mal bei Strei­te­reien auf dem Schul­hof, im Gegröle auf dem Fuß­ball­platz oder von besof­fe­nen Glat­zen- Knackis am Bier­ki­osk. Und nun das aus Vatis Mund! Kar­nickel blon­die­ren – Schi­zo­ty­pisch hirn­be­häm­mert sei das! Reif für einen Gehirn­klemp­ner! Allein, wenn sich das herumspricht!
Für Hugo reichte das Don­ner­wet­ter zwei, drei Wochen. Er sorgte brav für Kanin­chen­nah­rung, füt­terte pünkt­lich und mistete alle sie­ben Tage gründ­lich Schlen­kis Stall aus. Mit dem her­an­na­hen des Som­mers wurde ihm das aller­dings im stei­gen­den Maße lang­wei­lig, zumal sein Lieb­ling mit erstaun­lich schnell wach­sen­der Lei­bes­fülle bei­nahe täg­lich trä­ger und trä­ger wur-de. Fres­sen und schla­fen, schla­fen und fres­sen. Bewe­gung nur spar­sam. Ähn­lich wie bei Opa, dachte Hugo, aber sol­che Ver­glei­che behielt er schon wegen der groß­vä­ter­li­chen Betei­li­gung am Taschen­geld für sich. Immer­hin kit­zelte ihn seine Phan­ta­sie von Tag zu Tag hef­ti­ger, am hef­tig­sten zwi­schen den Ohren.
Nur ein­mal aller­dings brach die schi­zo­phrene Hirn­be­häm­me­rung doch noch durch. Schuld war eine Fern­seh­sen­dung über kos­me­ti­sche Ope­ra­tio­nen an unsym­me­trisch gewach­se­nen Damen. Brust, Bauch, Po, Nase und – da schrillte in die Phan­ta­sie! Da tram­pelte der Scha­ber­nack taten­süch­tig! Um Ohren ging es! Zu groß, zu kleine, segel­glei­che und knos­pen­ar­tige. Keine Schlapp­oh­ren! Ein völ­lig neues Ope­ra­ti­ons­feld! Schlen­kis beacht­lich in die Länge ge-wucher­ten Löf­fel hin­gen ihr wie ver­welkte Blät­ter bei­der­seits am Kopf herab. Das for­derte nach Hugos Mei­nung gera­dezu zwin­gend ver­schö­nernde, chir­ur­gi­sche Ret­tung. Fach­ärzt­li­che Aus­kunft und eine Sen­dung „Ele­fant, Tiger und CO.“ bestä­tig­ten ihm, dass ein­ge­zwickte Ohr­mar­kie­run­gen bei Tie­ren völ­lig schmerz­los vor­ge­nom­men wer­den kön­nen. Er musste nicht lange suchen. Sein Vater nannte das kleine, hand­li­che Gerät einen Klam­mer­af­fen. Es funk­tio­nierte in Hugos Hand wie von einem Chir­ur­gen der Spit­zen­klasse geführt. Steil nach oben geho­ben die lan­gen Lau­scher und dicht unter­halb der Enden zwei­fach getackert – steil! Hoch­ge­streckt wie das Mat­ter­horn im Doppelpack!
Hugos Freude und Stolz währte frei­lich nicht ein­mal eine volle Stunde. Dies­mal gab es auch kein elter­li­ches Wort­ge­wit­ter. Es blieb jedoch bei einer väter­li­chen Reak­tion, die huma­ner-weis für Hugo ohne Wie­der­ho­lung blieb: Die erste und ein­zige väter­li­che Ohr­feige sei­nes Lebens, aller­dings brannte auch noch schmerz­haft sie­ben Stun­den danach real und in der Seele. Sogar über Jahre!
Es ist nie ganz klar gewor­den, ob diese Gescheh­nisse, ver­bun­den mit den Rei­zen der Som­mer­zeit, Ursa­che dafür waren, dass Hugos Bezie­hung zu Schlenki von Woche zu Woche deut­li­cher abkühl­ten. Es fing damit an, dass er Schlen­kis nun ver­grö­ßer­ten Fress­napf nicht mehr täg­lich, son­dern nur noch ein­mal in der Woche füllte und das nun wie­der enttackerte Haus­tier jedes Mal ermahnte: Friss nicht alles auf einmal!
Aus­ge­mi­stet wurde nur noch nach mehr­fa­chem, elter­lich ange­droh­tem Ent­zug des Taschen­gel­des. Trotz­dem hatte sich bis in den Herbst hin­ein all­mäh­lich und gezwun­ge­ner Maßen ein ande­rer Rhyth­mus ein­ge­spielt. Zustän­dig für die täg­li­che Füt­te­rung: Mutti! Auf­gabe Aus­mi­sten: min­de­stens ein­mal wöchent­lich: Vati! Und Hugo? Der hatte mit Schach, Brief­mar­ken­samm­lung und gemein­sa­mem Film­gucken mit sei­ner ersten, von Woche zu Woche enge­ren Freun­din viel Beschäf­ti­gung, da blieb schon Monate vor dem Ende des chi­ne­si­schen Hasen-Jah­res keine Zeit mehr für irgend­wel­ches Vieh­zeug. Jede Auf­for­de­rung in diese Rich­tung schmet­terte er erfolg­reich mit der Erklä­rung ab: Ent­we­der ich küm­mere mich um Schlenki oder ich büf­fele für die Auf­nahme zum Gym­na­sium – also? Über das Ler­nen für die höhere Schule ging bei den Eltern nichts! So kam, wie es kom­men musste. Schlen­kis kör­per­li­che Ent­wick­lung erlaubte gegen Weih­nach­ten hin nur noch die Kar­nickel-Abschieds­lö­sung. Pro­blem wurde frei­lich die dafür unum­gäng­li­che Pro­ze­dur. Schlach­ten! Mit Knüp­pel und Mes­ser gegen eine hilf­lose, fried­li­che, zahme Schlenki?! Mutti konnte kein Blut sehen und Vati schei­terte am Töten. Aus­ho­len mit dem Knüp­pel ja, aber zuschla­gen – nie­mals! Also trug Mutti das ahnungs­lose, schlacht­reife Kanin­chen in der Ein­kaufs­ta­sche zum Flei­scher. Nein, dies­mal keine Rou­la­den, keine Knack­wurst, nur ein­mal Schlach­ten bitte! Natür­lich unbe­dingt schmerz­los! Human, viel­leicht mit Nar­kose?! Und Rück­gabe dann mög­lichst brat­fer­tig por­tio­niert. Die tie­ri­sche Her­kunft an Keu­len, Läuf­chen und der­glei­chen mög­lichst nicht sofort erkenn­bar! Der Mei­ster grin­ste bei der Arbeit, was sel­ten pas­sierte. Und am ersten Fei­er­tag lag Schlenki in lecker anmu­ten­den Tei­len gemein­sam mit Thü­rin­ger Klö­ßen und Rot­kraut auf dem Tisch. In brau­ner Soße. Hugo bekam eine Keule. Er kaute sehr lang­sam. Eine Hälfte blieb auf sei­nem Tel­ler. Und wenn ich hun­dert Jahre alt werde, dachte er, und wenn Weih­nach­ten, Ostern oder der­glei­chen wun­der­schöne Feste pas­sie­ren. Kanin­chen jeden­falls nie wieder!
Und für Blon­di­nen, zumal par­fü­miert, echt oder gefärbt, hat er auch heute noch nichts übrig, egal ob mit oder ohne Schlapp­oh­ren. Doch das Wich­tig­ste soll hier, obwohl nur für spe­zia­li­sierte Men­schen­ken­ner wahr­nehm­bar, nicht ver­bor­gen blei­ben: Nach jenem Ereig­nis voll­zog sich, was Hugos Phan­ta­sie und Scha­ber­nack betraf ein cha­rak­ter­tie­fer Pro­zeß: Ver­küm­me­rung! Meta­mor­phose! Mit der Reife hin zum Erwach­sen­sein ver­än­derte sich Hugos Ideen­kraft hin zu sehr nütz­li­chen, sogar aus­zeich­nungs­wür­di­gen und gewinn­brin­gen­den Erfin­dun­gen, doch von Schab­r­nack nicht mehr die Spur! Und bezüg­lich tie­ri­scher Par­fü­mie­run­gen, Bon­d­ie­run­gen und ohr­ablen Tacke­reien unter­lag der Diplom­in­ge­nieur rasant fort­schrei­ten­der Ver­gess­lich­keit, bis er nicht ein­mal mehr sei­nen Kin­dern davon erzäh­len konnte. Erst bei Opa Hugo stellte sich in die­ser Rich­tung auch das Gedächt­nis all­mäh­lich wie­der ein.


Abdruck mit freund­li­cher Geneh­mi­gung des Autors. Alle Rechte beim Autor.
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