Diana Hellwig
Stundenlang konnte es reglos irgendwo sitzen, ohne sich zu verraten. Fand man es, blieb es in der Bewegung eingefroren, ein Präparat seiner selbst, ein schönes, naturgetreues Exemplar.
Es war die Art Tier, die Mutter erlaubt hatte. Eigentlich wollte Gregor einen Hund oder eine Katze. Doch das war Mutter nicht recht. Höchstens ein Meerschwein. Das wollte Gregor nicht. Ein Terrarientier, das nicht roch und keine Haare in der Wohnung verlor, damit war Mutter einverstanden, und Gregor wurde Besitzer eines Chamäleons.
Es war sehr schwer gewesen, solch ein Tier zu bekommen. Mutter sagte, sie hätte sämtliche Beziehungen spielen lassen und dass er ihr dafür etwas schuldig sei. Das Chamäleon saß die meiste Zeit im sogenannten Blumenfenster, wo es sich gut verstecken oder totstellen konnte. Es war langweilig. Gregor fühlte sich betrogen. Er hatte ein Tier und konnte doch nichts mit ihm machen. Und das Ärgste war, dass die Klassenkameraden ihm sein Haustier nicht glaubten. Sie sagten „Lügner“ und „Spasti“ zu ihm. So beschloss er, das Chamäleon mit in den Biologieunterricht zu nehmen.
Das Klassenzimmer war aufgeheizt. Das Chamäleon saß wie ein hartgewordenes Plüschtier auf Gregors Schoß und drückte mit seinen weder kalten noch warmen Füßen die Haut seiner Oberschenkel ein. Es konnte sich erstaunlich schwer machen. Hin und wieder öffnete es sein Maul. Niemand schien das Tier zu bemerken. Als die Lehrerin hereinkam, setzte Gregor es in den Karton zurück. Nach dieser Stunde würde er es herumzeigen.
Doch als die Stunde zu Ende war und Gregor den Karton aufheben und in den nächsten Raum tragen wollte, war er leer. Gregor rief und suchte. Er wusste nicht, ob ihn das Chamäleon überhaupt hören konnte. Er schaute unter die Bänke und hinter die Vorhänge. Sah im Waschbecken nach und bei den Grünpflanzen. Das Tier blieb verschwunden. Die letzten Mitschüler, die beim Hinausgehen getrödelt hatten, sahen ihn an, als sei er nicht ganz richtig im Kopf. Dann brach die nächste Klasse herein. Es läutete, und der Lehrer wedelte Gregor mit einer Handbewegung hinaus.
In Gregors Hals pochte es. Er presste sein Ohr an die Tür. Auch sein Ohr pochte. Und dann zuckte er, weil er etwas gehört hatte. Einen Schrei. Viele Schreie. Ein Durcheinander von Stimmen. Gregor öffnete einen Spalt weit die Tür und sah, dass ein Mädchen bleich neben der Tafel stand. Der Lehrer hatte sich zu ihr umgedreht und hielt sich am Pult fest. Er muss auch erschrocken gewesen sein. Gregors Beine drohten zu versagen, doch er lief in den zornigen Blick des Lehrers und pflückte das Chamäleon von dem Schiefer. Es sah aus, als sei ein Stück Tafel, das zufällig die Form eines Chamäleons hatte, heruntergerutscht und am Rand hängengeblieben.
Mit einem kleinen Geräusch, das nur Gregor hören konnte, löste es sich vom Holz und fiel in seine Hand.
Der Direktor war ein hoher Mann mit Backenbart. Er saß inmitten einer Runde anderer Lehrer. Die Biologiestunde. Soso. Mit dieser Kartonage? Was für eine Eidechse? Woher? Wurde sie entwendet? Wem sollte dieser Streich gelten? Wollte Gregor Walser gezielt den Unterricht stören?
Gregor rieb sich den Arm. Der Lehrer mit dem Mädchen an der Tafel hatte ihn hart festgehalten und geschüttelt. Jetzt sah er verstört und kleinäugig zu Gregor hin. Er hatte ihm Kiste und Tier weggenommen und: „Das hat ein Nachspiel, das machst du nicht umsonst!“ gezischt. Und: „Deine arme Mutter!“
Die Kiste stand zwischen Gregor und dem Tribunal auf dem Boden. „Öffnen!“, herrschte man ihn an. Mit hochgezogenen Augenbrauen beobachteten die Lehrer Gregors Bewegungen. Ihm war schwindlig. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn. Sein Hemd war feucht. Er bog die Deckellaschen nach oben und schnitt sich an einer Kante in den Finger. Blut lief über eine Seitenwand. Die Lehrer stellten die Füße spitz nach vorn. Gregor hob den Karton an, er war leicht. Er drehte ihn um. Eine Fliege krabbelte heraus, und ein paar Löwenzahnblätter segelten auf den Boden des Lehrerzimmers.
Der Direktor hatte sich als erster gefasst. Etwas von „zum Narren halten“, „Sabotage“ und „Sauerei“ kam aus seinem Mund. „Ein bisschen dalli!“, „Mutter einbestellen!“
Gregor wusste nicht, wie das Chamäleon aus der Kiste hatte verschwinden können. Der Direktor war puterrot gewesen. Gregor hörte ein Klacken neben seinen Ohren. Es dauerte eine Weile, bis er merkte, dass seine Zähne klapperten. Er lief durch die Straßen. Er war hinausgebrüllt worden. Als er nach Hause schlich, war es bereits dunkel. Vorsichtig drückte er die Tür auf.
„Hast du den Verstand verloren?!“ Eine Ohrfeige glühte auf Gregors Gesicht. „Du bist wirklich zu nichts nütze. Denkst du eigentlich nie nach? Ich dachte – gut, soll der Junge sein Tier haben. Vielleicht wird er dann ein bisschen normaler. Aber nein, mein Sohn haut mich in die Pfanne. Musst du dieses Vieh unbedingt mit in die Schule nehmen? Und als ob das noch nicht schlimm genug wäre, schleppst du auch noch diesen Karton mit. Absender Dortmund. Du Unglücksbalg!“
Sie fegte das Paket vom Tisch und trat darauf herum. „Hätte ich doch deinen Vater nie kennengelernt. Versaut mir meine ganze Karriere. Und du – du bist genau wie er. Ohne Rücksicht.“
Jetzt fing sie an zu weinen. „Da schufte ich jeden Tag, damit du es mal besser hast, und wie dankst du es mir?“ Gregor weinte auch. Er bereute. Er hatte einen Fehler gemacht, das leuchtete ihm ein. Was aber die Mutter so aufbrachte und auch die Lehrer, dazu musste ein viel größerer Fehler gehören, den er nicht verstand.
Gregor wischte sich die Augen, aus denen immer neue Tränen quollen. Sie hörten gar nicht mehr auf zu fließen. Seine Nase lief, sein Kopf war schwer und voll; sein Körper aber fühlte sich seltsam hohl an, als würde er sich auflösen, allmählich zu Wasser werden. Und ja, dachte er, damit wäre er einverstanden. Das wäre für alle die beste Lösung, wenn er einfach davonflösse oder im Teppichboden versickerte und dann eintrocknete und es dann mit ihm und seinem ganzen Elend vorbei wäre.
Die Mutter sprach tagelang nicht mit Gregor. Gregor vermied, sie anzusehen. Auch er sprach nicht. Er war wie versteinert. Er atmete flach. Sein Herz klopfte polternd. In seinem Bauch fühlte er einen Stich, der ihm alle Kraft nahm, als sei ein Blitz in ihn gefahren und stecke da nun für immer fest. Auf seinen Knien hielt Gregor das Chamäleon, das still zu ihm hochsah. Er streichelte es vorsichtig am Hinterkopf. Es öffnete leicht das Maul und ließ seine Zunge sehen, eingezogen und dick. Und plötzlich schoss sie hervor, wie aus einer Laune heraus. Gregor schaute erschrocken auf das Tier, das wie ein Instrument nach einem Saitenriss nachschwang. Zwischen seinen derben, trockenen Lippen klebte eine Briefmarke. „Deutschland dankt Cralog und Care“, entzifferte er. Das Chamäleon schluckte trocken und verdrehte die Augen.
Vorbild war das sowjetische Kollektiv. ‚Für Frieden und Sozialismus, seid bereit!‘ Das hörte Gregor von der Mutter. Der Mensch ließ sich nur durch Druck in ein nützliches Mitglied der Gesellschaft verwandeln. Drill, Zucht, Unterwerfung. Gregor sah die stationierten Rotarmisten, die mit schwerem Gerät zu Manövern fuhren und die Straßen sicherten. Männer, fast noch Jungs, kaum älter als er. Die Uniformen verliehen ihren Körpern Halt. Die alten Frauen nannten sie mitleidig Bürschchen und brachten ihnen manchmal etwas zu essen. Und er, Gregor, musste zu Ferienbeginn ins Wehrlager, während seine Klassenkameraden bei ihren Eltern bleiben oder zu Großeltern aufs Land fahren durften. Nächsten Sommer mussten sowieso alle ins Lager. Das war so ungerecht.
„Wieso muss ich das machen?“
„Frag nicht so viel. Das wird dir ganz guttun. Da musst du dich mal einordnen ins Kollektiv, statt herumzuspinnen.“
„Ich spinne nicht“, sagte Gregor trotzig.
Die Mutter atmete scharf durch die Nase ein und sagte nichts mehr. Und da stieg in Gregor etwas auf, das er noch nicht kannte. Es war mehr als Zorn oder Wut oder Trotz. Es war ein Gefühl, das neu war und mächtig. Er packte plötzlich das Chamäleon und presste dessen Hals zusammen. „Du Vieh!“ Er schüttelte es. Das Tier atmete rascher. Gregors Gesicht wurde bleich und bekam rote Flecken. Er beobachtete, wie das Chamäleon mit seinen kurzen Beinen strampelte und sich an der Klammer seiner Hand festkrallen wollte, doch immer wieder abrutschte. Wie es seinen Hals drehte und ihm die Haut über die Augen trat. Wie es das Maul öffnen wollte, doch nicht öffnen konnte, weil Gregors Daumen und Zeigefinger es wie in einem Schraubstock hielten.
Werfen, Laufen, Gleichschritt. Spaniens Himmel. Lied durch. Auf Gregor Walsers Arm stapelte sich ein graugrüner Drillichberg. „Anziehen!“ Der Berg war ihm zu groß.
Orientierung im Gelände. Laufen mit Gasmaske. Handgranatenwurf. Marschieren.
Gregor Walser konnte den Gleichschritt nicht halten. Die Ausbilder meinten, er wollte nicht. Anfangs fanden die Kameraden das lustig. Sie hielten ihn für mutig. Sie lachten in sich hinein, während sie das Marschieren übten.
Die Ausbilder hatten Zeit. Sie kannten sich aus. Irgendwann werden die Kameraden müde. Irgendwann hören sie auf zu lachen. Gregor versuchte sich zu konzentrieren, und zuweilen hielt er Schritt, doch niemals lange. Die vor und nach ihm Gehenden fluchten bald lauter. Die Ausbilder schrien. Die Drillichmasse bewegte sich vor und zurück. Wendete, stand still, begann erneut zu laufen. Links! Gregor hatte keine Kontrolle mehr über seine Beine. Links. Rechts. Es war immer falsch. Immer gerade der falsche Fuß. Die anderen standen ihm jetzt in den Hacken. Sie nahmen keine Rücksicht mehr. Sie traten hart auf. Sie traten zu. Ihre Füße machten mit jedem Schritt ein klares, scharfes Geräusch.
Seine eigenen Füße tanzten, verloren sich zwischen den Linien. Er versuchte, sie unhörbar zu setzen, unsichtbar, doch die Meute der anderen Füße schien nur auf ihn zu warten, auf seinen Fehltritt. Seine Fersen glühten vor Schmerz. Sein Körper bebte. Er war durstig. Und sein Herz, es sprang uneben. Unrhythmisch, wie er selbst in dieser Truppe; ganz aus der Reihe sprang es.
Und dann wurde es dunkel, und Gregor fühlte nur noch, dass Tritte auf ihm landeten und über ihn hinweggingen, und wohl stiegen auch einige über ihn, aber das, was zutrat, genügte.
Er kam zurück, oder vielmehr, er wurde gebracht. Zu seiner Mutter. „Hat den ganzen Unterricht sabotiert, dein Junge. Ist in Ohnmacht gefallen. Ein Simulant, Genossin. Soll bloß Marschieren üben!“
Die Mutter sah Gregor mit kaltem Blick an. Er war ein Versager, wie sein Vater. Noch ein Jahr, dann verließ er die Schule, und sie hatte ihre Pflicht getan. Sollte er weggehen, ihr aus den Augen, sollte er tun, was er wollte. Aber bitte dann nicht angekrochen kommen, wenn er nicht klarkam.
„Chamäleons besitzen nur eine Herzkammer, wussten Sie das?“ Der Arzt tippte Gregor Walser an die Schulter. Eine Zeitschrift über exotische Tiere rutschte ihm von den Knien. „Sie bilden eine Muskelschicht aus, die die Kammer in zwei Bereiche aufteilt. So koppeln sie Blut- und Atemkreislauf und können auf geänderte Bedingungen reagieren.“
Gregor sah den Arzt abwesend an: „Ah ja?“
„Bei Ihnen ist das ähnlich“, fuhr er fort, „nur mit anderen Folgen. Herzklappeninsuffizienz, Herr Walser. Damit ist nicht zu spaßen. Der Kreislauf hält das normalerweise nicht so lange aus.“
Der Arzt sah ihn an, und fast spiegelte sich etwas wie Anerkennung in seinem Gesicht. Gregor dachte: Ja, Überleben. Darum geht es. Durchhalten. Und er sagte: „Chamäleons, so?!“ Hätte ich wissen können. Ein zäher kleiner Kerl. Mutter liebte ihn, weil er so tapfer war. Hat ihn vor mir gerettet, vor mir Idioten.
„Was also Ihr Herz angeht, Herr Walser, müssen wir operieren.“
Ich glaube, sie hat sich wieder eines gekauft. Das ist jetzt alles einfacher geworden. Vielleicht ist es auch schon Nummer drei? Die Zeit vergeht.
„Am besten, Sie bleiben gleich hier. Haben Sie jemanden, der Ihnen Sachen bringen kann? Na, überlegen Sie es sich“, sagte der Arzt.
Gregor musste sich am Hörer festhalten. Mehrfach hatte er versucht, seine Mutter wiederzusehen. Nach so vielen Jahren. Er dachte, sie würde sich freuen. Er dachte, sie sei schließlich seine Mutter. Auch glaube er, seinen Erinnerungen nicht trauen zu können. Als er das letzte Mal an ihrem Haus war und lange geläutet hatte, kam schließlich eine Nachbarin und sagte, eigentlich müsste Mutter zu Hause sein.
Jetzt lauschte er dem Klingelton des Telefons. Nach einiger Zeit knackte es und – schwieg. „Hallo? Mutter? Bist du das?“
Er versuchte ein Lächeln, einen Scherz. Er fragte das Telefon, wie es ihm gehe. Sagte, er habe es besuchen wollen. Sagte, ihm selbst gehe es sicher bald besser und er bitte um ein paar Sachen. Ob also das Telefon zu seiner Wohnung fahren könne. Es sei eine Notlage. Das Telefon lauschte ihm mit stummer Aufmerksamkeit, bis Gregor Walser schließlich auch verstummte und ebenfalls lauschte.
Er suchte zu ergründen, mit wem er da sprach, und ihm war, als hörte er ein kleines trockenes Geräusch, wie das Öffnen und Schließen von Lippen. Aber sonst hörte er nichts. Nur ein Warten. Eine unendliche, ausdauernde, kühle Beherrschung.
aus: Der lächelnde Hund. Erzählungen, Edition Muschelkalk der Literarischen Gesellschaft Thüringen e. V, Band 48, Weimar 2019.
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