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Spielverderber

Anne Büttner

 

Nur noch sie­ben Geh­mi­nu­ten ent­fernt. Umge­rech­net bedeu­tet das eine still­ge­legte Lackier­fa­brik, eine alte Pol­ste­rei, die ledig­lich des Wild­wuch­ses an der Fas­sade wegen einen flo­rie­ren­den Ein­druck erweckt, und ein ehe­ma­li­ges Kin­der­heim, das inzwi­schen von außen genauso schlimm aus­sieht, wie es von innen immer war. Über­flüs­sig erscheint ihm das Stück Welt hier. Ver­schwen­de­risch der zuge­wu­cherte Abstand zwi­schen den trost­lo­sen Gebäu­den. Über­trie­ben das Wort Gebäude. Für ihn sind es kleine Drecks­bu­den. Ver­fickte Kack­lau­ben. Mist­schei­ßende Arsch­loch­schup­pen. Zum Glück ist nicht der Weg das Ziel, son­dern Jesus, der an des­sen Ende in einem aus­ge­dien­ten Alt­rei­fen­la­ger auf den Jun­gen war­tet. Oder ein­fach auf das, was pas­siert. Hat was mit Gewohn­heit zu tun. Man gewöhnt sich ja irgend­wie an alles, hatte der Junge mal gehört.

Meist win­selte Jesus schon los, bevor der Junge über­haupt das Gelände betrat. Seit eini­gen Tagen ging das nun schon so. Komisch. Noch vor weni­gen Wochen, an dem Tag, da sie ein­an­der ken­nen­lern­ten, win­selte Jesus erst, als der Junge ihn für ein paar Stun­den zurückließ.
Das war genau an dem Nach­mit­tag, als der Besit­zer des Alt­rei­fen­han­dels ver­stor­ben war. Wie­der die Sache mit der Gewohn­heit. Dies­mal anders­rum. Denn plötz­lich war da kei­ner mehr, zu dem Jesus immer streu­nern konnte, ohne ver­jagt oder gefan­gen zu wer­den. Kei­ner mehr, der stets einen Bis­sen oder Schluck irgend­was für Jesus bereit­hielt, wann immer er vor­bei kam. Wirk­lich nichts Gro­ßes. Nur so irgend­was. Aber Jesus hatte sich an das nur so irgend­was gewöhnt. Ebenso, wie er sich an sei­nen Namen gewöhnt hatte, den ihm der Alt­rei­fen­händ­ler gab. Vor­her hatte er immer nur auf Ruf­na­men wie Drecks­töle, Mist­kö­ter oder Scheiß­viech reagiert – und zwar mit Flucht. So war er irgend­wann zufäl­lig durch den ein­ge­ris­se­nen und im Laufe der Zeit fast bis auf Knie­höhe nie­der­ge­tre­te­nen Draht­zaun hin­durch auf das ver­las­sen wir­kende Lager­ge­lände gelangt, das für ihn fortan so was wie Hei­mat bedeu­tete. So was wie zuhause. Das Namens­schild an sei­nem Hals, das der Alt­rei­fen­händ­ler ihm damals fei­er­lich umge­legt hatte, erin­nerte daran. Auch wenn der Kof­fer­an­hän­ger sowohl für die fünf Buch­sta­ben als auch für sei­nen Hals viel zu groß war, passte das lederne, abge­grif­fene Mate­rial wie kein Zwei­tes und auch der Name war nach Mei­nung des Alten der ein­zig pas­sende über­haupt für Jesus. Weil er eben so ein rich­ti­ger Köter sei, wie sie einem in süd­li­chen Län­dern zuhauf vor die Füße tre­ten. Oder in deren Hau­fen man mit den Füßen tritt. So ein rich­ti­ger Hund eben. Mit einem rich­ti­gen Hun­de­le­ben. So ein ech­ter Streu­ner halt, mit stra­ßen­kö­ter­ner Fell­farbe. So unfri­siert. So ursprüng­lich. Und so aus­ge­mer­gelt. Des­we­gen Jesus. Und des­we­gen der Altreifenhändler.

Bis zu jenem Tag, als das große schwarze Auto auf dem Gelände stand. Jesus roch sofort, dass etwas nicht stimmte. Statt modern­den Alt­rei­fen­ge­ruchs hing an die­sem Nach­mit­tag mod­ri­ger Alt­her­ren­ge­ruch in der Luft und statt natür­lich Stille lag künst­li­ches Schwei­gen über dem Lager­platz. Plötz­lich war Hei­mat gestern. Den Jun­gen, der ganz in der Nähe stand und inter­es­siert zuschaute, bemerkte Jesus erst, als einer der trau­er­far­ben geklei­de­ten Her­ren ihn, in Jesus› Rich­tung nickend fragte, ob dies sein Hund sei. Über­ra­schend bejahte der Junge nach kur­zem Zögern. Außer, dass er log, wusste Jesus bis zu die­sem Moment nichts über den frem­den Jun­gen. Wie das große schwarze Auto das Gelände ver­ließ, bekam Jesus gar nicht mehr mit. Zu sehr war er damit beschäf­tigt, den schmäch­ti­gen Lüg­ner zu betrach­ten, der, das stand fest, mit dem Rei­fen­händ­ler so wenig gemein hatte, wie Jesus mit einem Rassehund.
Die Haut frei von Fal­ten aber voll von Geschich­ten, den Blick für sein Alter zu düster, die Hal­tung für seine Kno­chen zu ver­krampft, die Kapu­zen­jacke für seine Sta­tur zu groß und für das Wet­ter zu warm stand er vor ihm und musterte „sei­nen Hund“. Lang brauchte er dafür nicht. An Jesus gab es nicht viel zu mustern. Weder in Höhe noch in Länge und schon gar nicht in Breite. Das bemerkte auch der Junge. Den­noch schien er alles andere als ent­täuscht. Fast wäre ihm sogar ein Lächeln passiert.

Mit schief geleg­tem Kopf schaute Jesus zu, wie der Junge in sei­nem zer­beul­ten Jag­druck­sack nach etwas kramte. Anschei­nend nach dem drecki­gen und durch­weich­ten Stück But­ter­brot­pa­pier, das sich mit dem zer­knautsch­ten, tei­gi­gen Inhalt ver­eint hatte, statt ihn vor der schlam­mi­gen Nässe zu schüt­zen. Der Junge wollte den Klum­pen schon am Mor­gen nicht, als der Klum­pen noch ein Brot war und in der Hof­pause noch nicht unter lau­tem Gegröle erst in die Pfütze und dann gegen sei­nen Kopf gewor­fen wurde, von wo aus er schließ­lich in sei­nen Ruck­sack klatschte. Danach wollte er es erst recht nicht mehr. Den Gedan­ken, dass Jesus es viel­leicht auch nicht wollte, zog der Junge nicht in Betracht. Den Gedan­ken, dass Jesus die Leine, die vor­her als Kor­del für den Jag­druck­sack gedient hatte, viel­leicht nicht wollte, dachte der Junge gar nicht erst. Jesus, des­sen Namen er auf dem alten Kof­fer­schild gele­sen hatte, könne froh sein, dass er ihn nicht annagele. Dann dreht er sich um und ließ das win­selnde Tier zurück.

Schon am näch­sten Mor­gen tauchte der Junge wie­der auf. Die Leine viel zu kurz, die Nacht viel zu lang, war Jesus den­noch hell­wach, sobald er hörte, wie die­ser mit einem Zweig, der ein Ast hätte wer­den kön­nen, wütend auf alles ein­drosch, was ihm unter das Stück Holz kam. Zaun. Rei­fen. Weg. Leben. Jesus war froh, dass der Zweig brach, bevor der Junge den rosti­gen Hän­ger erreichte, an den gel­eint Jesus kau­erte. Kaum, dass der Junge dort ange­kom­men den unbe­rühr­ten Klum­pen Brot vom Vor­tag sah, drückte er das Tier ohne Vor­war­nung mit der Schnauze in das immer noch nasse Stück But­ter­brot­pa­pier. Da die­ses samt Inhalt weit weni­ger hart war, als der Griff des Jun­gen, wurde Jesus› Schnauze erst von der mit Stei­nen durch­setz­ten Erde dar­un­ter gebremst. Der Junge erklärte ihm, dass es unhöf­lich sei, Geschenke abzu­leh­nen und er sich das wahr­lich nicht lei­sten könne, aber das würde er schon noch ler­nen. Der Junge würde es ihm, das ver­sprach er, immer und immer wie­der erklä­ren – und zwar so lang, bis Jesus es begrif­fen hatte.

Der Junge war nicht immer schlecht. Manch­mal brachte er Jesus sogar etwas Fress­ba­res mit, das weder dreckig, noch schim­me­lig, noch ander­wei­tig unge­nieß­bar war. Manch­mal saß er ein­fach nur vor Jesus und sah ihn an. Ihn, das ein­zige Lebe­we­sen, das sich das gefal­len ließ. Das ein­zige Lebe­we­sen, das auf ihn reagierte und nicht gegen ihn agierte. Ein­mal hatte er ihm sogar etwas geba­stelt. Stolz zeigte er Jesus ein Holz­kreuz, das er aus zwei straff umwickel­ten Zaun­lat­ten gefer­tigt hatte. Dass diese mas­siv waren, wusste er aus eige­ner Erfah­rung. Jesus› Kreuz hatte er in die Kon­struk­tion geritzt, die nun statt des rosti­gen Hän­gers als Anlein­punkt diente. Wo Jesus drauf­stand, sollte auch Jesus dran sein, hatte er gesagt.

Eines Tages ver­kün­dete der Junge, er habe sich ein Spiel aus­ge­dacht. „Jesus lat­schen“ hieß es. Der Junge fand das lustig. Zumin­dest, was den Humor anbe­langte, waren er und sein Stief­va­ter sich ähn­lich. Zwei­mal täg­lich war es an der Zeit für sein neues Spiel. Ein­mal mor­gens auf dem Weg zur Schule und ein­mal nach­mit­tags auf dem Weg zum Haus, in dem er woh­nen musste. Zu gewin­nen gab es bei „Jesus lat­schen“ nichts. Für Jesus sowieso nicht. Das Spiel ging so: Der Spiel­füh­rer (Junge) latscht den Mit­spie­ler (Jesus) so lange, bis der Spiel­füh­rer das Spiel für been­det erklärt. Wie der Mit­spie­ler getre­ten wird, ob mit Anlauf oder ohne, links- oder rechts­fü­ßig, ange­täuscht oder direkt, mit Fuß­un­ter­seite oder Spann, liegt in der Gunst und im Fuß des Spiel­füh­rers. Des Jun­gen Lieb­lings­tritt war eine gerad­li­nige und schwung­volle Bewe­gung sei­nes rech­ten Fußes, wobei der Spann von unten satt und mit­tig gegen Jesus› Bauch klatschte. Beson­ders warm wurde es dem Jun­gen dabei im Bereich des Mit­tel­fuß­kno­chens, da diese Stelle den mei­sten Kon­takt mit Jesus› schmäch­ti­gem Leib hatte. Obwohl er flei­ßig übte, gelang ihm der Tritt nicht immer. An beson­ders ehr­gei­zi­gen Tagen machte ihn das erst rich­tig rasend. Qua­li­tät ver­suchte er dann durch Quan­ti­tät zu erset­zen. Nur sel­ten fand Jesus die Kraft, wenig­stens zu ver­su­chen, dem fuß­för­mi­gen Geg­ner zu ent­kom­men. Je ener­gi­scher jedoch der Ver­such, desto schmerz­haf­ter der unmit­tel­bar fol­gende Schnitt der Leine in den immer dün­ner wer­den­den Hals. Ent­kom­men konnte er den Trit­ten nicht. Er konnte sie so ledig­lich bes­ser am Kör­per ver­tei­len. Jeden Mor­gen und jeden Nach­mit­tag bot der Junge ihm erneut die Mög­lich­keit, das ein­zu­se­hen. Manch­mal waren die Beweise hier­für mor­gens deut­li­cher als nach­mit­tags, manch­mal war es umgekehrt.

Obwohl Jesus die Regeln ver­stan­den und genü­gend Angst vor dem Jun­gen hatte, war er es, der das Spiel uner­laub­ter­weise beendete.

Ungläu­big starrte der Junge auf Jesus› geschun­de­nen Kör­per, der regungs­lose an der Leine liegt. Fast sanft stupst er das leb­lose Tier immer wie­der mit dem Fuß an, weil er sich irgend­eine Reak­tion erhofft. Diese aber bleibt aus. Dabei wollte er Jesus doch einen neuen Tritt zei­gen, der ihm selbst wenige Stun­den zuvor schmerz­haft auf dem Schul­hof bei­gebracht wurde. So beeilt hatte er sich, um schnellst­mög­lich, solang die Wut noch frisch war, an den trost­lo­sen Drecks­lau­ben des über­flüs­si­gen Stücks Welt vor­bei, zu sei­nem Hund zu gelan­gen. Und jetzt das! Wäre der Junge nicht so furcht­bar wütend und ent­täuscht dar­über, betro­gen und allein gelas­sen wor­den zu sein und hätte er so etwas wie Trauer gekannt, würde er viel­leicht auch so etwas wie Trauer emp­fin­den. So aber ist es Wut. Wut dar­über, auf Jesus rein­ge­fal­len zu sein. Auf diese kleine Töle, um die er sich geküm­mert hatte. Die er besucht und mit Fres­sen ver­sorgt hatte. Mit der er spielte. Das Scheiß­viech kannte die Regeln doch. Der Junge hatte sie ihm doch erklärt. Der Köter hatte doch mit­ge­spielt. Er war doch ein­ver­stan­den. Fast hatte der Junge geglaubt, sie seien so was wie Freunde. Zwar weiß er selbst nicht, wie Freunde wirk­lich sind, aber er hatte mal gehört, dass sie die Lau­nen des ande­ren ertra­gen und einen so neh­men, wie man ist. Aber Jesus war kein Freund. Ein Spiel­ver­der­ber war Jesus. Mehr nicht. Wütend und ent­täuscht begriff der Junge, dass die Zeit für „Jesus lat­schen“ abge­lau­fen war. Der Ein­zige, der jetzt noch mit ihm spielte, das weiß er, wäre sein Stief­va­ter. Obwohl noch nicht mal in der Nähe des Hau­ses, in dem er mit ihm woh­nen musste, konnte er ihn schon hören. Wie er mit ver­sof­fe­ner Stimme nach dem Jun­gen rief oder hustete oder irgend­was dazwi­schen, er solle kein Spiel­ver­der­ber sein, es sei Zeit für „Hau den Lukas“. Lukas kennt die Regeln. Der Stief­va­ter hatte sie ihm erklärt.


aus: Der Rest ist das, was übrig bleibt, Kurz­ge­schich­ten, 2011.
Alle Rechte bei der Autorin.
Abdruck mit freund­li­cher Geneh­mi­gung der Autorin.
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