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Nesselkönig (Auszug)

Ralf Eggers

 

Zwölf­tes Kapi­tel: Vic­tor Nes­sel­kö­nig spielt zuviel Schach und schreibt zuwenig.

»Was macht das Werk?«, fragte Bron­nen, wann immer er vor­bei­kam. Und immer hatte Vic­tor Nes­sel­kö­nig noch Zeit gebraucht. All­mäh­lich dau­erte es län­ger als der Auf­bau des Sozia­lis­mus. Den hatte man sich auch ein­fa­cher vor­ge­stellt und schnel­ler. Abge­se­hen von Eigen­gasts Memoi­ren mit dem getürk­ten Nes­sel­kö­nig-Kapi­tel, die imWe­sent­li­chen als Buch­prä­mie an Akti­vi­sten der So-zia­li­sti­schen Arbeit und Abitu­ri­en­ten ver­schenkt wur­den, hat­ten sie bis jetzt nur Nes­sel­kö­nigs Erzäh­lun­gen neu her­aus­ge­bracht, Ver­schie­de­nes aus der Früh­zeit, das Käm­mer­ling aus Wei­ma­rer Lite­ra­tur­zeit­schrif­ten zusam­men­ge­klaubt hatte. Und die frü­hen Gedichte, derent­we­gen man Bron­nen im ZK fast einen Kopf kür­zer gemacht hatte. For­ma­li­sti­scher Müll, kos­mo­po­li­ti­sche Ver­stie­gen­hei­ten. Dann war nichts mehr gekom­men. War­ten. Braucht noch Zeit. Die Span­nung war gestie­gen und nichts gekom­men. Wenn Vic­tor schließ­lich doch mit gesenk­tem Blick ein paar getippte Sei­ten über den Tisch schob, ver­suchte Bron­nen gar nicht erst, es zu beur­tei­len. Er ging bei Radolph Käm­mer­ling im Ver­lag vor­bei. Als er des­sen rie­si­ges Büro mit den ver­gla­sten Bücher­schrän­ken vol­ler Erst­aus­ga­ben sah, klopfte er sich im Gei­ste auf die Schul­ter. Es hatte Käm­mer­ling nicht gescha­det, dass er sich um die sti­li­sti­sche Poli­tur von Cor­ne­lius Eigen­gasts Erin­ne­run­gen ver­dient gemacht hatte. Die Par­tei ver­stand es, zu beloh­nen. Käm­mer­ling war immer noch jung, neigte aber zu thea­tra­li­scher Genia­li­tät. In der vor­pom­mer­schen Kate sei­ner Eltern hatte kein Buch außer der Bibel gestan­den. Er war einer der Men­schen, denen ihre Bega­bung zum lebens­lan­gen Unglück gewor­den wäre ohne die Erfin­dung der Arbei­ter- und Bau­ern­fa­kul­tät. Käm­mer­ling liebte die Par­tei und er hatte Grund, sie zu lie­ben, weil sie einem Tage­löh­ner­sohn eine Ver­le­ger­kar­riere eröff­nete – und den Traum, viel­leicht der­einst selbst zu schrei­ben. In der auf­blü­hen­den Ost­ber­li­ner Lite­ra­tur­szene der sech­zi­ger Jahre genoss er einen spe­zi­el­len Ruf, der sich in der Anek­dote kri­stal­li­sierte, er ver­bringe seine Vor­mit­tage im Kaf­fee­haus mit der Lek­türe von Kafka oder Heming­way, um, wenn er gefragt wurde, was er da las, den Blick zu heben und lau­ter als nötig zu sagen: »Ich schaue nur mal, was die Kol­le­gen so schrei­ben.« Bron­nen über­ließ Käm­mer­ling Vic­tors Ver­su­che mit der Bitte, einen Blick dar­auf zu wer­fen: Das sei ein womög­lich nicht ganz unbe­gab­ter jun­ger Dich­ter. Aber zwei Wochen spä­ter hatte der Lek­tor es gele­sen und mit der ihm eige­nen fröh­li­chen Dra­stik zwei halbe Sätze dafür übrig­ge­habt: »Taugt nichts. Rein gar nichts.« Er las es noch ein­mal, viel­leicht nur wegen Bron­nens ent­täusch­tem Gesicht und wurde kaum aus­führ­li­cher: »Ich kann ja noch mal drü­ber nach­den­ken.« Auf einem Emp­fang der Leip­zi­ger Buch­messe, wo Käm­mer­ling schon die­ses oder jenes Glas geleert hatte, fasste er sein Lek­tü­re­er­leb­nis mit dem Satz zusam­men, der unbe­kannte Autor solle lie­ber Jura stu­die­ren, dort seien höl­zerne Spra­che und Ver­zicht auf eigene Ideen Eignungsvoraussetzung.
Bron­nen über­ging, dass das seine Fakul­tät gewe­sen war. Wer hätte auch gedacht, dass die Stasi Juri­sten beschäf­tigte? Er zog Luft durch die Nase ein, beugte sich dann über den Steh­tisch im Künst­ler­klub des Cof­fee­baum, ergriff sogar Käm­mer­lings Hand­ge­lenke und sagte leise: »Sie ken­nen den Autor.«
»Raten!«, bet­telte Käm­mer­ling, klatschte wie ein Kind in die Hände und starrte an die Kas­set­ten­decke: »Äh … Wei­nen? Bredel? Einer die­ser Jungs von der Dich­ter­schule? Nein, ich wette: Bredel.« Er trank sein Glas aus, stellte es auf einen Tisch und trat von einem Fuß auf den ande­ren wie ein dickes Kind, das auf die Geburts­tags­torte war­tet. »Sagen Sie schon! Bredel, ja?«
»Nicht Bredel«, sagte Bron­nen betre­ten und zer­rieb zwi­schen Dau­men und Zei­ge­fin­ger eine trockene Salz­stange, die der immer hung­rige Käm­mer­ling übrig gelas­sen hatte. Um sie herum
herrschte gedämpf­tes Mur­meln, Kell­ner boten im Vor­über­ge­hen Getränke an und Käm­mer­ling schnappte sich ein neues Glas.
Plötz­lich wurde er rot, die Röte über­zog ihn vom Hals bis zum Ansatz sei­ner dicken, nach hin­ten gekämm­ten Haare, er stam­melte amor­phe Sil­ben vor sich hin. Eine ufer­lose Ver­le­gen­heit bemäch­tigte sich sei­ner, ein zur Fülle nei­gen­der, ker­ni­ger Mann, dem etwas unge­heuer pein­lich war. »Ich muss es viel­leicht … O Gott! Genosse Bron­nen, ich wollte Sie nicht …«
Bron­nen trat grin­send einen Schritt zurück. »Es ist nicht von mir, keine Sorge.« Die Selbst­zu­frie­den­heit des Man­nes, den man zu Unrecht für schwul hält. »Es ist von einem wirk­lich gro­ßen Dich­ter. Einem Dich­ter, der sich aller­dings …«, er war­tete, bis der Kell­ner vor­bei­stol­ziert war, »… in einer Krise befin­det. Sie mei­nen, es taugt wirk­lich gar nichts?«
»Sagen Sie mir, wer es ist, viel­leicht finde ich dann eine Spur … Ich meine, viel­leicht begreife ich dann erst, wor­auf es hin­aus­lau­fen soll. So etwas gibt es …«
Bron­nen winkte ab, beugte sich wie­der nach vorn, winkte Käm­mer­ling heran, sah ihm tief in die Augen und sagte, jede Silbe beto­nend: »Vic – tor Nes – sel – kö – nig.«
Man konnte Käm­mer­ling dabei zuse­hen, wie er ver­suchte, sein Urteil über den Text und die Iden­ti­tät sei­nes Autors in eine dia­lek­ti­sche Ein­heit zu zwin­gen. Wir kön­nen davon aus­ge­hen, dass er Nes­sel­kö­nig für ebenso über­schätzt hielt wie die Gebrü­der Mann, und das erleich­terte es gewiss, die­sen Wider­spruch zu ver­kraf­ten. Und so hockte er von nun an wöchent­lich mit dem Dich­ter Nes-sel­kö­nig und Bron­nen im Turm in Drei­zehn­hei­li­gen und behielt die Anspie­lung auf Höl­der­lin für sich. Manch­mal tra­fen sie sich aus einem Grund, um den die bei­den ande­ren ein Geheim­nis mach­ten, im Gäste­haus der Aka­de­mie. Käm­mer­ling kam immer zu spät, ohne sich zu ent­schul­di­gen, warf seine abge­schabte Akten­ta­sche acht­los auf den Tisch, kramte schwer atmend Vic­tors Ent­würfe vom letz­ten Mal her­aus und ver­tei­digte mit der Emp­find­lich­keit des ver­kann­ten Autors seine sub­stan­ti­el­len Ein­griffe. Er sprach von Glät­ten, von Kor­rek­tu­ren, aber im Grunde hatte er alles neu geschrie­ben. Er ließ sich schwe­ren Her­zens über­re­den, das Sujet zu akzep­tie­ren – diese blöd­sin­nige Geschichte von einem unga­ri­schen Betrü­ger, der den abso­lu­ten Schach­au­to­ma­ten baut, eine Idee, die er für voll­kom­men unbrauch­bar hielt, auf der aber Bron­nen mit sei­nem recht­wink­li­gen, nicht für die Lite­ra­tur gebau­ten Ver­stand fast noch mehr beharrt hatte als Nes­sel­kö­nig selbst. Der arme Nes­sel­kö­nig, der ohne­hin nur ungern und dünn­häu­tig über das von ihm Geschrie­bene sprach! Und wie gut konnte Käm­mer­ling ihn ver­ste­hen, wie gut! Jedes Rai­son­nie­ren über einen selbst geschrie­be­nen Satz war schließ­lich, als ob man den eige­nen Darm stück­weise aus irgend­ei­ner Kör­per­öff­nung gezo­gen bekam. Also hatte Käm­mer­ling sich über­re­den las­sen, zumal Bron­nen es liebte, ihn daran zu erin­nern, wer hier Autor war und wer Lektor.
Aber dann, als Käm­mer­ling nach zwei­ein­halb­jäh­ri­ger frucht­lo­ser Müh­sal so weit gewe­sen war, auf­zu­ge­ben, schob Nes­sel­kö­nig mit dem Gesicht eines stol­zen Pen­nä­lers, der seine ersten Gedichte zeigt, fünf­zig eng­be­schrie­bene Sei­ten über den Tisch am Ufer des Sees, die Käm­mer­ling höf­lich ein­packte und zu Hause in der Bade­wanne las. Er ver­gaß, den Was­ser­hahn abzu­stel­len. Es war – über­wäl­ti­gend. Sätze, Sze­nen, die leb­ten, atme­ten, rochen. Groß­ar­tig, leicht­fü­ßig. Nes­sel­kö­nig­lich. Es gab eine Szene, ganz zu Anfang, die den Sieg des Auto­ma­ten gegen ein ame­ri­ka­ni­sches Schach­ge­nie beschrieb (so etwas kam auch im Zen­tral­ko­mi­tee gut an). Der bis­her unbe­siegte, selbst­ge­wisse Mae­stro, des­sen Name Mor­phy pas­sen­der­weise an Mor­phium den­ken ließ, sitzt der Maschine gegen­über, unter­liegt gegen alle Wahr­schein­lich­keit, ver­sucht es wie­der und wie­der und ver­liert dabei erst sein Selbst­ver­trauen und dann sei­nen Ver­stand. Das war aller­be­ster Nes­sel­kö­nig. Käm­mer­ling schnalzte nei­disch mit der Zunge. Dann aller­dings kam eine Szene, in der auf irgend­ei­nem böhmi-schen Schloss der Erfin­der der Maschine und ein jun­ger Eleve sich gemein­sam in eine böh­mi­sche Adlige ver­lie­ben, die – deli­kat, deli­kat! – wenn Käm­mer­ling rich­tig ver­stand, mit bei­den ins Bett ging. Und zwar zur glei­chen Zeit. Käm­mer­ling riet zur Änderung.
»Das ist …, äh, ehr­lich gesagt, Genos­sen, das ist Gruppensex.«
Bron­nen griff blitz­schnell nach den Blät­tern, über­flog sie hastig und schob die Augen­brauen zusam­men. »Aber das ist … das muss so sein. Um die janze … Ver­wor­fen­heit zu zei­gen, die mo-Ali­sche …«, hil­fe­su­chend sah er Nes­sel­kö­nig an, »die janze Ver‑o rb enheit.«
»Quatsch. Genauso war es«, sagte Vic­tor träumerisch.
»Das wird anders ver­stan­den«, sagte Käm­mer­ling, der Bescheid­wis­ser. »Das wird … also unsere Erfah­rung ist, dass die Leu‑B Bücher nur wegen sol­cher … äh … Stel­len kau­fen.« Er nannte len Fall eines kürz­lich in Lizenz ver­kauf­ten Fran­zo­sen. Die Leih­blio­the­ken klag­ten, dass dem Buch, wenn es über­haupt zurück­ge­ge­ben wurde, gewisse Sei­ten fehl­ten. Gewisse Sei­ten, auf denen … Bron­nen kam ins Grü­beln. »Ick ver­stehe. Ick ver­stehe«, sagte er und nickte vor sich hin. Dann sah er den Dich­ter an und ragte so laut, als sei der schwer­hö­rig: »Und du? Es ist schließ­lich dein Text.«
»Es ist … es ist lebens­nah, sozu­sa­gen …«, mur­melte Nes­sel­kö­nig ver­le­gen, drückte dann den Rücken durch und sagte: »Das bleibt, wie es ist. Sonst las­sen wir es ganz.«


aus: Nes­sel­kö­nig, Roman, Mit­tel­deut­scher Ver­lag, Halle/Saale 2011. Der Abdruck erfolgt mit freund­li­cher Geneh­mi­gung des Mit­tel­deut­schen Ver­lags Halle.
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