Überspringen zu Hauptinhalt

Lauschen

Patrick Siebert

 

immer hör­test du Bach
und Bach und Bach
wir konn­ten nicht reden
ohne ihn im Hintergrund
und eine Fuge sei eine Flucht
wei­ter konn­test du nichts sagen
als die Flucht, sie ging nicht in die Freiheit
bei dir war Bach immer der Kom­po­nist des Todes
des Todes sag­test du, wenn ich mit dir reden wollte
von den Fidschi­in­seln oder Walmdachgebäuden
von der Gast­stätte am Markt oder dem Winter

du hör­test Bach und schau­test ein Mäd­chen an
es schein trau­rig zu sein
du sag­test, schau in ihr Gesicht
da ist so Vie­les zu sehen, sehe in ihren Augen die Töne
alles vol­ler Klang, ich glaube fast die Luft um sie herum vibriert
und dann schwiegst du und gingst und sangst eine Cantate
und sangst und sangst, ich konnte nicht mithalten
ich hielt mich ein­fach weit hin­ten, dachte an das Mädchen
sie war wohl Chi­ne­sin oder so, ich konnte noch ihre dün­nen Beine sehen,
sie blie­ben hän­gen in mei­nen Augen und davon sprach ich und du schüt­tel­test den Kopf
und dann sagte ich Fuge, ja die Flucht, weit weg, immer voran
dahin­ge­hen in einem Kis­sen aus Schall, das hätte er bestimmte gemocht, statt da zu sitzen
in Eisen­ach, in Arn­stadt, in die­sen gan­zen dün­nen Sphären
immer nur Walm­dä­cher und Gast­stät­ten am Markt
glaubt du er fühlte sich da wohl?

und ich schwieg, was sollte ich sagen, was sollte ich sagen, Bach war Familienmensch,
Bach hätte alles
gege­ben für seine Kin­der? Bach wollte sie unter wis­sen, sorgte für ihre Ausbildung?
Da hobst du einen Fin­ger an die Lip­pen und dreh­test dicht am Wind. Fühlst du die Gedanken,
fühlst du
sie?, frag­test du mich. Spürst du diese tie­fen Stim­mun­gen in den Wip­feln? Könnte es nicht eine
Toccata
sein, viel­leicht sogar die Toc­cata und Fuge in d‑Moll.
Und ja, eigent­lich hörte ich nichts. Ich belauschte einen Gim­pel weit ent­fernt und irgendwo nagelte ein
alter Die­sel­bus vor­über, aber mehr? Nein.
Und dann war es eben soweit. Dann kam er Abend. Du erzähl­test von Bach in Naum­burg und der
Orgel
in der Wen­zels­kir­che und erzähl­test ich solle sie hören. In ihre Töne ver­sin­ken und fassen
was sie gibt. Ich
dachte noch immer an das Mäd­chen. Ihre chi­ne­si­schen Augen, wie ich sie nannte, waren dunkel
und ihre
Haar recht kurz. Sie schaute mich an, nur eine Sekunde. Ihr lief der Rotz aus der Nase
und sie schaute
mich an und ich dachte in ihren Augen etwas zu hören. Von da an war ich stumm, Ich sagte nichts zu
dei­nen Gedan­ken, ließ dich erzäh­len von den Ora­to­rien, den gro­ßen Pas­sio­nen, Ich schwieg und lief
neben dir, ich schwieg und hörte dir zur, ich schwieg und dann wollte ich nicht mehr.

Was sollte das, Kom­po­nist des Todes?
Immer nur die Orgel, immer nur das wohl­tem­pe­rierte Klavier.
Was sollte das? War ich nicht bei dir? War ich nicht?
Immer nur Bach, Bach, Bach?
Ja ich ging, sagte nichts mehr. Ging und ließ dich allein. Ging und du merk­test es nicht.
Auf dem Nach­hau­se­weg sah ich das Mäd­chen wie­der. Ein alter Mann führte es an der Hand.
Es lachte und sprach. Und ich lauschte ihrer Stimme. Ich hörte ihr zu, ihr zu und ver­stand nichts. Nur ihr
Lachen, das wusste mir Geschich­ten zu geben.


Mit freund­li­cher Geneh­mi­gung des Autors. Alle Rechte beim Autor.
An den Anfang scrollen