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Julischatten

Antje Babendererde

 

Lukas und Jimi haben Sim vom Flug­ha­fen abge­holt und bei ihrer Tante Jo abge­lie­fert. Nun sit­zen die bei­den Jun­gen im Auto und sind auf dem Weg nach Hause.

Lukas Magen knurrte. Seit dem Früh­stück hatte er nichts Ordent­li­ches mehr zwi­schen die Zähne bekom­men. Wie gerne würde er jetzt mit Jo und Sim im Block­haus am Tisch sit­zen und ihren Gesprä­chen lau­schen. Wenn Jo Som­mer­gä­ste hatte, dann erfuhr er jedes Mal etwas Neues aus der Welt, die hin­ter den Reser­vat­s­gren­zen lag. Fremde Län­der fas­zi­nier­ten ihn, viel­leicht des­halb, weil sie uner­reich­bar für ihn waren.
Manch­mal wech­sel­ten Jos Lands­leute in sei­nem Bei­sein in ihre Mut­ter­spra­che. Er mochte den pol­t­ri­gen, gewitt­ri­gen Klang der deut­schen Worte. Jimi dage­gen behaup­tete, wenn Deut­sche sich unter­hiel­ten, würde es immer nach Streit klingen.
Vor allem aber inter­es­sierte ihn Sim, die anschei­nend nicht frei­wil­lig hier war. Als Jimi sei­nen Mustang vom Schot­ter­weg auf die Asphalt­straße lenkte, hielt Lukas es nicht län­ger aus. „Nun erzähl schon, wie sieht sie aus?“
„Keine Ahnung“, ant­wor­tete Jimi nach eini­gem Zögern, „jeden­falls nicht wie ein Mädchen.“
Nicht wie ein Mäd­chen? „Wie dann?“
„Na ja, eher wie ein komi­scher Vogel. Sie trägt keine … wie soll ich sagen … übli­chen Klamotten.“
„Kannst du ein biss­chen ins Detail gehen?“ Lukas platze bei­nahe vor Neu­gier. „Wie wär’s, wenn du sie mir ein­fach beschreibst, ohne deine geschätzte Wer­tung bitte.“
Jimi seufzte dra­ma­tisch und legte los: „Sie ist ein rich­ti­ges Bleich­ge­sicht mit hel­ler Haut, an die ver­mut­lich nie ein Son­nen­strahl gelangt. Gelb­grüne Sta­chel­beer­au­gen, so dick mit schwar­zer Schminke umran­det, dass sie aus­sieht wie ein Wasch­bär. Rot gefärbte Sta­chel­haare, Stor­chen­beine und Tit­ten win­zig wie Mäu­sena­sen. Ach ja, und sie hat da diese häss­li­che Narbe in der Oberlippe.“
Lukas amü­sierte sich über den Zoo in Jimis Beschrei­bung. Jimi Little Wolf war in den ver­gan­ge­nen Jah­ren ein Mei­ster der Beob­ach­tungs­kunst gewor­den und Lukas wusste das zu schät­zen. Durch Jimis Fan­ta­sie wurde seine dunkle Welt bun­ter und grö­ßer. Wäh­rend er ihm die schräge Klei­dung von Jos Nichte schil­derte, und von ihren blauen Fin­ger­nä­geln erzählte, ent­stand ein Bild vor Lukas Augen, ein Bild von einem bun­ten, geheim­nis­vol­len Mäd­chen mit win­zi­gen Brü­sten und einer furcht­ba­ren Narbe im Gesicht.
Die mei­sten Leute glaub­ten, Lukas könne nicht viel anfan­gen mit Far­ben. Aber das war ein Irr­tum. Er war nicht von Geburt an blind gewe­sen – sie­ben Jahre lang hatte er sehen kön­nen. Bis zu dem Unfall, bei dem seine Mut­ter starb und sein Leben in undurch­dring­li­ches Schwarz getaucht wurde. Doch die Far­ben waren in sei­nem Kopf. Er kämpfte beharr­lich darum, sie nicht an die Dun­kel­heit zu ver­lie­ren. Indem er sie mit Eigen­schaf­ten, Gerü­chen und Gefüh­len ver­band, ver­suchte er sie festzuhalten.
Die Farbe Grün war der Duft frisch geschnit­te­nen Gra­ses, Gelb so gemüt­lich wie ein Nicker­chen am Nach­mit­tag. Weiß war so weich wie der Flaum einer Adler­fe­der und Braun der bit­ter­süße Kakao­ge­schmack von Scho­ko­lade. Die Farbe Blau war die Weite des Him­mels, Rot bedeu­tete glü­hende Hitze und Blut und Hass. Schwarz war so sanft wie die Nüstern eines Pfer­des, war die Fülle von schwe­rem Indianerhaar.
Durch ihre ver­rück­ten Kla­mot­ten würde sich Sim von den Mäd­chen im Reser­vat unter­schei­den, die mei­stens in Ein­heits­klei­dung unter­wegs waren: Jeans und T‑Shirt im Win­ter. Shorts und T‑Shirt im Sommer.
Simona. Er mochte den Klang ihres Namens, was sie anschei­nend nicht tat. Sie hatte abge­klärt wir­ken wol­len, aber ihre Stimme war unsi­cher und rau. Sie hatte kaum etwas gesagt, und wenn, dann hatte sie lang­sam gespro­chen, als müsse sie die Worte erst suchen. Dabei sprach sie ziem­lich gut eng­lisch. Ihre Stimme klang ehr­lich und ver­riet ihm mehr, als die Worte, die sie sich abge­run­gen hatte.
Sim hatte cool wir­ken woll­ten, doch dahin­ter ver­barg sich Unsi­cher­heit. Unter ihrem mür­ri­schen Des­in­ter­esse bro­delte Neu­gier. Und sie war von Jimi beein­druckt gewe­sen, obwohl sie mit aller Macht ver­sucht hatte, das zu ver­ber­gen. Ihr Atem hatte sie ver­ra­ten. Wenn sie mit Jimi gespro­chen hatte, war Befan­gen­heit in ihrer Stimme gewesen.
Nicht, dass ihn das über­rascht hätte. Jimi gefiel jedem Mäd­chen, sie war­fen sich ihm rei­hen­weise an den Hals. Er sah gut aus (das sagte jede) und sei­nem ver­we­ge­nen Charme konnte kaum eine wider­ste­hen. Sein gro­ßes Vor­bild war Crazy Horse, der zum Mythos gewor­dene Häupt­ling, der mit sei­nen Krie­gern und Ver­bün­de­ten die 7. Kaval­le­rie unter Gene­ral Custer am Little Big­horn ver­nich­tend geschla­gen hatte.
Was Lukas aller­dings über­raschte: Sim hatte auch Ein­druck auf Jimi gemacht.
Jimi Little Wolf grub jede an, ob sie nun hübsch war oder häss­lich, klein oder groß, dick oder dünn. Er testete seine Wir­kung, das konnte er ein­fach nicht las­sen. Nur weiße Mäd­chen pass­ten nicht in sein Beu­te­schema, sie inter­es­sier­ten ihn nicht, da hatte er seine Prin­zi­pien. Dass es bei Jos Nichte anders war, musste etwas bedeuten.
Sollte er Jimi fra­gen, ob er rich­tig lag? Mit Sicher­heit würde er alles abstrei­ten und ihn auslachen.
Jimi dros­selte das Tempo, sie hat­ten Man­der­son erreicht. Wie immer machte Jimi Halt vor Pin­kys Laden, um sich noch eine Cola, Tabak oder Kon­dome zu kaufen.
„Brauchst du was?“, fragte er.
„Ein paar neue Augen.“
„Okay. Ich frag mal, ob heute wel­che mit­ge­kom­men sind.“
„Ein Sand­wich wäre super“, sagte Lukas, „und ein Wasser.“
„Ja, klar. Was sonst, du Langweiler.“


Juli­schat­ten, Arena Ver­lag, Würz­burg 2012, Taschen­buch­aus­gabe, Würz­burg 2016.
Der Abdruck erfolgt mir freund­li­cher Geneh­mi­gung des Arena Ver­lags Würzburg.

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