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Julischatten

Antje Babendererde

 

Lukas ist nun mit Sim zusam­men. Als unfrei­wil­li­ger Zeuge eines Gesprächs erfährt er, dass Jimi aus dem Weg geschafft wer­den soll und er will sei­nen Freund war­nen. Per SMS bestellt er ihn an die Schlucht in der Prä­rie, wo sie sich immer tref­fen, um Dinge zu bereden.

Jimi ließ das Auto auf dem unbe­fe­stig­ten Weg am Fuße eines Hügels ste­hen und lief über das son­nen­ver­brannte Gras hin­auf. Als er auf der Kuppe stand, konnte er Lukas auf dem Fels­vor­sprung sit­zen sehen. Ver­mut­lich hockte er da schon seit Stun­den und war­tete, wäh­rend ihm das Hirn eintrocknete.
In der Ferne, über den leuch­ten­den Zacken der Bad­lands, brau­ten sich dunkle Wol­ken zusam­men. Jimi stieg in die Tal­senke hin­un­ter und den Pfer­de­pfad zur Fels­platte wie­der hin­auf. Als er sich Lukas bis auf zehn Meter genä­hert hatte, rührte der sich noch immer nicht.
Jimi blieb ste­hen, zog eine Ziga­rette aus sei­ner Hosen­ta­sche und schob sie zwi­schen die Lip­pen. Er hatte das Feu­er­zeug schon in der Hand, doch ein ver­bor­ge­ner, häss­li­cher Teil in ihm ließ ihn zögern. Das Klacken des Feu­er­zeu­ges wür­den Lukas Fle­der­maus­oh­ren mit Sicher­heit wahr­neh­men und dann musste sich Jimi allem stel­len. Sei­ner Eifer­sucht, sei­nem ver­letz­ten Stolz und sei­nem Zorn, den er seit der Party mit sich her­um­trug wie ein klei­nes schar­fes Messer.
Er ließ ein paar Minu­ten ver­strei­chen. Lukas zu beob­ach­ten, ohne dass der sich sei­ner Anwe­sen­heit bewusst war, gab ihm ein Gefühl der Über­le­gen­heit. Die Macht des Sehen­den dem Blin­den gegen­über. Genützt hatte es ihm nichts, dass er zwei gesunde Augen hatte – jeden­falls nicht bei Sim.
Als Lukas auf­stand und sich umdrehte, hielt Jimi den Atem an. Lukas Nacht­au­gen waren direkt auf ihn gerich­tet. Es waren die Augen eines Sehers, obwohl sie nichts sahen.
„Jimi, bist du das?“
Konnte Lukas auch Gedan­ken hören? Jimis Fin­ger umklam­mer­ten das Feu­er­zeug. Er ant­wor­tete nicht. Schließ­lich hob er die Hand und zün­dete seine Ziga­rette an.
„Jimi, bist du da? Ich muss mit dir reden, hörst du. Es ist wichtig.“
Er nahm einen tie­fen Zug und stieß lang­sam den Rauch aus.
„Was soll der Unfug, Champ?“, fragte Lukas. „Komm schon, ich weiß, dass du da bist.“
Nur ein paar Meter lagen zwi­schen ihnen, doch gleich­zei­tig war es eine Kluft so breit wie der Grand Can­yon. Jimi nahm noch ein paar Züge, dann konnte er sei­nen Zorn nicht län­ger im Zaum hal­ten. Er musste Lukas schla­gen oder gehen. Wort­los drehte er sich um und folgte dem Pfer­de­pfad zurück in die Senke. Er drückte die Kippe an sei­ner Schuh­sohle aus und schnippte sie ins Gras. Mit schnel­len Schrit­ten stieg er den Hügel hin­auf, hin­ter dem er sei­nen Wagen abge­stellt hatte.
Oben ange­kom­men, warf er doch noch einen Blick zurück. Lukas stand auf der Fels­platte und hatte sein Handy in der Hand. Noch ehe Jimi reagie­ren konnte, mel­dete sich sein eige­nes Mobil­te­le­fon. Er zog es aus der Hosen­ta­sche und das Wolfs­heu­len hallte über den Hügel. Ein Blick auf das Dis­play. Lukas. Jimi drückte ihn weg und wandte sich zum Gehen, als er aus dem Augen­win­kel her­aus mit­be­kam, wie aus dem Gras in der Senke eine dünne Rauch­fahne auf­stieg. Die Kippe, schoss es ihm durch den Kopf, sie war nicht rich­tig aus gewesen.
Sein erster Impuls war, hin­un­ter­zu­lau­fen und den Brand­herd zu löschen. Aber er tat es nicht. Fas­zi­niert starrte er auf die Flam­men, die aus dem Gras wuch­sen. Erst klein und kaum zu sehen, dann grö­ßer, bis sie einen Wachol­der­busch in Brand setz­ten, der auf­lo­derte wie eine Fackel.
„Ich sehe was, dass du nicht siehst, Amigo“, mur­melte er. Drehte sich um und rannte hin­un­ter zu sei­nem Wagen.
Als er am Ende des Fahr­we­ges auf die Straße bog, stand die dunkle Rauch­wolke bereits zwi­schen den Hügeln. Jimi trat aufs Gas und ließ Lukas hin­ter sich.

Das lang gezo­gene Heu­len eines Wolfs drang an Lukas Ohren und sein Magen ver­krampfte sich. Obwohl er Jimis Anwe­sen­heit längst gespürt hatte, war die Gewiss­heit ein Schock für ihn. Warum hielt Jimi ihn zum Nar­ren? Warum war er erst gekom­men, wenn er dann ohne ein Wort wie­der ver­schwand wie ein Geist?
Jimis Leben war in Gefahr und er hatte keine Gele­gen­heit gehabt, ihm das zu sagen.
Ein Schwarm Vögel flat­terte mit ängst­li­chen Schreien aus dem Gras und Lukas zuckte erschrocken zusam­men. Plötz­lich roch er es: Feuer. Irgendwo, ganz in der Nähe, brannte es. Das musste Jimi doch bemerkt haben. Er wollte nach ihm rufen, bekam jedoch kei­nen Ton her­aus. Seine Rechte umklam­merte das Handy wie einen ret­ten­den Strohhalm.
Der bei­ßende Geruch wurde stär­ker, ver­mut­lich stand er genau in Wind­rich­tung. „Jimi“, brüllte er mit gan­zer Kraft.
Nichts.
In die­sem Moment hörte Lukas das Auf­heu­len eines Motors. Ein Wagen raste davon. Mit zit­tern­den Fin­gern wählte er die Not­ruf­num­mer der Polizei.
„Die Prä­rie brennt“, rief er. Aber noch bevor er sagen konnte, wo er sich befand, war die Ver­bin­dung unter­bro­chen. Sein Handy piepte, der Akku war leer.
Lukas ließ den Arm sin­ken, er war zu kei­nem kla­ren Gedan­ken mehr fähig. Er wünschte, ihm wür­den Flü­gel wach­sen und er könnte sich wie die Vögel empor­schwin­gen in küh­lere Schich­ten der Luft – doch er konnte sich nicht rühren.
Es war, als lauere in sei­ner Nähe ein gefähr­li­ches Tier, das jeden Moment zuschla­gen konnte. Lukas konnte es hören, das Feu­er­tier, er konnte hören, wie es fraß und immer näher kam.
Hin­ter ihm war die Schlucht, vor ihm das Feuer. Wenn er in die fal­sche Rich­tung lief, war er tot.
Angst summte durch Lukas Adern und sein Herz fing an zu rasen. Wenn die Angst sich sei­ner bemäch­tigte, wurde alles dun­kel und die Sinne gehorch­ten ihm nicht mehr. Angst machte ihn blind, nahm ihm den Atem, schmerzte wie eine offene Wunde. Doch noch tie­fer schmerzte Jimis Ver­rat. Sein Freund war nicht mehr sein Freund, son­dern sein Feind. Sie waren Hunka-Brü­der, hat­ten sich geschwo­ren, für den ande­ren da zu sein, auf Leben und Tod. Doch Jimi hatte den Eid gebrochen.
Das Feuer fraß sich die Anhöhe hin­auf, es konnte nur noch wenige Meter von der Fels­platte ent­fernt sein. Obwohl hier oben kaum etwas ande­res wuchs als Gras, schie­nen die Flam­men meter­hoch zu schla­gen. Der Todes­schrei eines Kanin­chens riss Lukas aus sei­ner Starre.
„Hilfe!“, schrie er. Doch sein Hil­fe­ruf wurde vom Pras­seln des Feu­ers ver­schluckt. Es kni­sterte, pfiff und toste. Das Feuer fauchte wie ein Berg­löwe. Es sang, es brüllte, es schrie. Und fraß: Gras­halme, Wachol­der­bü­sche, Erd­be­woh­ner, Sauerstoff.
Lukas Brust krampfte sich zusam­men. Rauch krallte sich in seine Lunge und sein Hals brannte, als hätte er Feuer geschluckt.
Die Hitze drang in ihn ein, strömte durch seine Adern und Kno­chen und ver­sengte die kalte Angst. Lukas spürte ein Beben in sei­nem Inne­ren, spürte, wie etwas ans Licht wollte. Es war ein Lied aus den Tie­fen sei­nes Unter­be­wusst­seins. Gesang ohne Worte. Lukas hob den Kopf und ließ die Töne aus sei­ner Kehle strö­men. Eine mensch­li­che Stimme im Chor der Flam­men. Er stand mit dem Rücken zur Schlucht, nur einen Meter vom Abgrund ent­fernt, das Gesicht dem Feuer zuge­wandt. Lukas sang gegen die Angst. Er sang gegen die gefrä­ßi­gen Flam­men, gegen Ent­täu­schung und Ver­rat, sang um sein Leben.


Juli­schat­ten, Arena Ver­lag, Würz­burg 2012, Taschen­buch­aus­gabe, Würz­burg 2016.
Der Abdruck erfolgt mir freund­li­cher Geneh­mi­gung des Arena Ver­lags Würzburg.

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