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Im Wald bei Ogrosen

Ursula Schütt

 

Von Kie­fern fällt Nacht ins Brombeerblatt.
Vom Moos­bett erhebt sich Nebel,
der das Gesicht des Kin­des hat
auf einem Totenschädel

Mein Vög­lein mit dem Ring­lein rot, 
sing Leide, Leide, Leide

Und Schat­ten, die hin­ter Farn­kraut sind,
schie­ben den knar­ren­den Wagen,
mit dem sie das gelähmte Kind
hier­her gefah­ren haben.

Wo ist mein Kind, wo ist mein Reh? 
Nun komm ich noch einmal …

Die Puppe liegt im schle­si­schen Schnee,
von Sol­da­ten­stie­feln zertreten.
»Mama, das Ster­ben tut mir weh.
Hilft beim Ster­ben Beten?«

Rucke die gu
Blut ist im Schuh…

»Weine, mein Kind, weil sonst nie­mand weint,
um dei­nen Tod zu beklagen.«
Die Sonne, die immer wie­der scheint,
wird fra­gen, fragen …

Ach, du lie­bes Hirtelein,
du bläst auf mei­nem Knöchelein … 

»Schla­fen, Mama, will nicht jede Nacht
das feuchte Nebel­kleid tragen.«
Hat immer noch nie­mand daran gedacht,
das Lösungs­wort zu sagen?

Aus Angst vor den Sol­da­ten der Roten Armee brach­ten sich am 20. April 1945 im Wald bei Ogro­sen in der Nie­der­lau­sitz 42 Män­ner, Frauen und Kin­der um. Das Gift reichte nur knapp für alle, sie star­ben lange und qual­voll. Viele von ihnen waren Ein­woh­ner von Ogro­sen, zwölf waren Flücht­linge aus der Gegend um Bres­lau, die nicht mehr die Kraft hat­ten, die Flucht fortzusetzen.
Dar­un­ter befand sich auch ein gelähm­tes Mäd­chen, das von sei­nen Eltern im Roll­stuhl fast 500 km bis in die­sen Wald gefah­ren wor­den war.


aus: Gehen muss ich auf dem Faden Zeit. Gedichte, Gotha, 2011. Alle Rechte bei der Autorin.
Mit freund­li­cher Geneh­mi­gung der Autorin.
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